Er nimmt gerne den Status eines Märchenerzählers ein, und seine Fabulierlust kennt keine Grenzen: Wie kaum ein anderer versteht es der in Marrakesch geborene Maler und Schriftsteller Mahi Binebine, traurige Schicksale mit witzigen und schalkhaften Worten zu schildern. Fantasievoll, lebendig und vielschichtig sind seine Romane, lebensbejahend auch. Ob er ein Flüchtlingsdrama erzählt («Willkommen im Paradies») oder den Werdegang junger Selbstmordattentäter nachzeichnet («Die Engel von Sidi Moumen»), immer schwingt im schier Unerträglichen ein Quäntchen Humor mit.
Den eigenen Sohn verleugnen
Binebine, der in Paris Mathematik studiert und unterrichtet hat und lange Zeit fernab der Heimat lebte, hat in der Kindheit und Jugend in Marokko wenig Erfreuliches erlebt. Seine Mutter musste sich und ihre sieben Kinder in der Medina von Marrakesch in einer männerdominierten Gesellschaft als Alleinerziehende durchschlagen. Der Vater hatte die Familie verlassen: 35 Jahre lang stand er im Dienste des despotischen Königs Hassan II.
Ein «veritables Drama shakespearscher Art» erlebte Binebine 1971 im Alter von zwölf Jahren, wie der Autor selber sagt. Damals war sein älterer Bruder Aziz als junger Offizier beim Putschversuch im Palast Hassan II. zugegen. Er wurde verhaftet und für Jahrzehnte in Tazmamart eingekerkert, einem der berüchtigsten Gefängnisse Marokkos. Das Schlimmste aber: Aziz’ Vater, ein Intimus des Königs, verleugnete fortan die Existenz seines Sohnes.
Die ganze Familie war paralysiert. Selbst als Aziz nach 20 Jahren Gefangenschaft 1991 freikam und seinem Vater vergab, konnte Binebine nicht gleichziehen. Es brauchte Jahrzehnte, um das Vorgefallene zu verarbeiten und sich mit dem Vater zu versöhnen. Der Autor tat es in Form des vorliegenden Romans. Darin erteilt er allein seinem Vater das Wort. Als «Ich-Erzähler» berichtet dieser vom Leben am Hof, vom König und von jenem schrecklichen Ereignis, das zum Zerwürfnis mit seiner Familie führte: «Diese Tragödie verwandelte mich in aller Augen in den Totengräber meiner eigenen Nachkommenschaft. Ein Monster war ich geworden, ein Verräter, ein Lump.»
Solche Einsichten verrät im Buch der Ich-Erzähler, der einst als armer Junge zum Hofnarren des Königs wurde und dadurch einen besonderen Status erhielt. In dessen Gunst zu stehen, verlangt viel von ihm ab. Es gilt, sich den Regeln des Hofes zu unterwerfen: «Man ist gehalten, sein Ego, die Eigenliebe und allerlei andere Selbstgefälligkeiten am Tor abzugeben, als wären es alte Babuschen, mit denen man den Alabasterboden des Patios beschmutzen könnte.» Nebst der Auseinandersetzung des Erzählers mit seiner Familiengeschichte lassen zahlreiche kleine Geschichten und Anekdoten am Alltag der Höflinge teilhaben. «Des Morgens hatten wir Anspruch auf sämiges Omelett mit Kameldörrfleisch, Wabenpfannkuchen an Eukalyptushonig, dazu eine Fülle heller Suppen und jede Menge Feingebäck.»
Doch die Annehmlichkeiten des Frühstücks liessen die Last des Alltags oft nur kurz vergessen, denn der König entschied bei all seinen Untergebenen über Sein oder Nichtsein – selbst bei seinen engsten Vertrauten: «Doktor Murra wachte über den Gebieter wie kein Mensch je zuvor. Er besass den Schlüssel, um dessen Ängste zu lindern, dessen Dämonen zu bezähmen. Über das leibliche Wohl des Königs zu wachen, ist nicht eben das leichteste Unterfangen. Über Doktor Murras Haupt schwebte fortwährend das Damoklesschwert.»
Buhlen um die Gunst des Königs
Die Hofgeschichten, die der Autor geschickt in seinen Roman packt, beruhen auf Erzählungen des Vaters, die Binebines Halbbruder über 25 Jahre lang mit der Videokamera aufgezeichnet hat. Drei Jahre hat der Autor am «Hofnarr» gearbeitet, seinem bislang intimsten Werk. «Ich wollte Frieden schliessen mit meinem Vater, der vor zehn Jahren gestorben ist», betont Binebine im Interview mit dem französischen Fernsehsender TV5. «Es war ein schwieriger Weg», bemerkt er. Ihn zu gehen, hat sich gelohnt.
Buch
Mahi Binebine
Der Hofnarr
Aus dem Französischen von Regina Keil-Sagawe
200 Seiten
(Lenos 2018)