Der Stabreim gibt den Tenor in dieser Geschichte aus dem 19. Jahrhundert vor: «Lil the kill». Die so erfolgreiche wie gefürchtete Unternehmerin Lillian Cutting findet sich in einer New Yorker Psychiatrie wieder: «Sie wehrte sich schreiend dagegen, in eine Zwangsjacke gesperrt und mit einem Schlauch zwangsernährt zu werden …». Niemand anders als ihr eigener Sohn Robert hat sie in diese missliche Lage gebracht, mit der gütigen Hilfe eines korrupten Seelendoktors, der die arme Lil für unzurechnungsfähig erklärt.
Denn Robert will das beträchtliche Familienvermögen seiner Mutter behändigen, das sein verstorbener Vater dieser und nicht seinem Sohnemann zukommen liess. Robert, das muss gesagt sein, ist ein Bösewicht durch und durch, der es auf alle Frauen rundum abgesehen hat. Kein Dienstmädchen ist vor ihm sicher, und wenn sie nicht willig ist, braucht er Gewalt.
Der Autor trägt zuweilen dick auf
Diese schrille Musik spielt in der Gesellschaftssatire «Lil» des bei Zürich lebenden Schriftstellers Markus Gasser. Sie ist in den 1880ern in New York angesiedelt und zeichnet das Bild einer verkommenen bürgerlichen Oberschicht, der «Erlauchten Vierhundert». Im Geldmilieu zettelt der charakterlose Robert Cutting die Verschwörung gegen seine Mutter an, die sich vorerst gegen die Machenschaften ihres Sohnes nicht wehren kann.
Erst mit der Hilfe eines achtsamen Richters kann sie sich aus den familiären Verstrickungen befreien und schlägt in der Folge unbarmherzig zurück. Im Roman geschieht sehr viel Böses, das aber nicht ungerächt bleibt. Autor Markus Gasser hat ein sicheres Gespür für Situationskomik. Diese Fähigkeit bewies er bereits mit seiner fiktionalen Biografie über den «Robinson Crusoe»-Erfinder Daniel Defoe. Auch im neuen Buch trägt Gasser dick auf, etwa wenn ein missratener Ex-Polizist sein Ende im East River findet, wo «die Fische sein Fleisch degustieren».
Natürlich kosten in diesem Buch auch die Menschen gerne – nämlich die Weine der ganz grossen Jahrgänge – mit kritischem Gaumen: «Dieser Chablis macht sich so, als hätte man Leichen darin gewaschen», mault eine Dame beim Dinner in der Abendgesellschaft, just dann, wenn sich die Fische im Fluss am Menschenfleisch gütlich tun. So haben die einen mehr und die anderen weniger Spass in der New York City der Dekadenz.
Ein schlauer Dobermann kommentiert die Lage
Erzählerin der Geschehnisse ist eine Nachfahrin der Familie Cutting. Sie entdeckt einen alten Brief von Lil, auf den sie sich ihren Reim macht, und berichtet ihrer Dobermann-Hündin Miss Brontë die Schicksalsgeschichte ihrer Vorfahren mit vielen viktorianischen Bezügen. Miss Brontë kommentiert das Geschehen ihrerseits mit hündischer Schlauheit und wundert sich über all die Scheusslichkeiten, die sich Menschen gegenseitig antun.
Dieser erzählerische Kunstgriff unterstreicht die Komik dieses Dramas. Unter der Zuspitzung leidet allerdings die Charakterisierung der Protagonisten, die holzschnittartig daherkommen. Bei «Lil» sind die Männer fast durchwegs stinkig, während die meisten Frauen ihren Heiligenschein nicht ablegen können. Aber eine vergnügliche Lektüre ist dieser Roman allemal.
Buch
Markus Gasser
Lil
237 Seiten
(C. H. Beck 2024)