Literatur und Leben sind bei der US-Autorin Sigrid Nunez immer eng verbunden. So auch im neuen Roman, der Anfang 2020 während des ersten Lockdowns in New York spielt, als das Leben durch die Pandemie zum Stillstand kommt. Diese äussere Ereignislosigkeit widerspiegelt auch das Buch, denn eine eigentliche Handlung sucht man in ihm vergebens.
Gedanken über das Altern und das Schreiben
Der Klappentext verspricht zwar die berührende Geschichte einer aufkeimenden Freundschaft zwischen einer älteren Frau, einem Studenten und einem temperamentvollen Papagei. Der autofiktionale Roman ist aber vielmehr eine Innenschau, in der Reflexionen über das Schreiben, über das Altern und über die Verletzlichkeit von Mensch und Tier im Fokus stehen.
Die Ich-Erzählerin fühlt sich verloren im leer gefegten Manhattan und ist froh, als sie von einer Bekannten, die in Kalifornien feststeckt, gefragt wird, ob sie sich um ihren Papagei kümmern kann. So zieht sie in deren luxuriöse Wohnung zum grün gefiederten Ara Eureka, der – wie die Menschen – Aufmerksamkeit und Gesellschaft braucht, um nicht zu vereinsamen. Bald erhält sich noch einen zweiten Mitbewohner, einen jungen Mann, den sie zuerst als Störenfried empfindet und den sie «Giersch» – wie das Unkraut – nennt.
Er hat sich mit seinen Eltern zerstritten, das Studium hingeschmissen und will sich nun kiffend der Welt und ihrem Ungemach entziehen. Diese vielversprechende Dreieckskonstellation ist aber nur der Ausgangspunkt für zahlreiche – durchaus interessante – Abschweifungen und Alltagsbeobachtungen der Ich-Erzählerin. Sie ist Schriftstellerin, fühlt sich in dieser von Isolation geprägten Ausnahmezeit aber ausserstande, kreativ zu sein, und fragt sich, ob sie «je wieder würde schreiben können – nur eine der vielen Unsicherheiten jenes Frühlings».
Eine Annäherung dank ein paar Joints
Sigrid Nunez trifft die unheilvolle Stimmung während des Lockdowns, der viele richtiggehend gelähmt hat, auf den Punkt. So sinniert ihre Ich-Erzählerin lieber über erste Sätze in Büchern, über prägende Lektüren und über den Antrieb zu schreiben – statt wirklich zu schreiben. Gegen Schluss nähern sich die ungleichen Mitbewohner einander doch noch in Gesprächen an – ein paar Joints lockern die Zunge.
Der junge Mann, der mit Unbehagen auf die Zukunft schaut, und die ältere Frau, die mit Wehmut zurückblickt auf unwiederbringlich Verlorenes, öffnen sich einander ein Stück weit in ihrer Verletzlichkeit und stellen fest, dass sie sich in ihren existenziellen Nöten in Umbruchzeiten vielleicht gar nicht so unähnlich sind.
Buch
Sigrid Nunez
Die Verletzlichen Aus dem USamerikanischen von Anette Grube
224 Seiten
(Aufbau 2024)