«Er redet nicht», stellt der Kinderarzt fest, als er den kleinen Amadeus untersucht. Das brauche er auch nicht, erwidert die Mutter stolz. «Wir verstehen uns, indem wir uns einen Blick durchs Zimmer zuwerfen.» Sie schicke ihren Sohn auch nicht in die Kindertagesstätte, dort würden alle Kinder zu Kommunisten erzogen. Dann lacht sie, denn die Verblüffung des Arztes bestätigte ihr nur wieder, «dass sie für solche Sachen einfach nicht gemacht ist» – für die Liebe, Fürsorge und Verantwortung.
«Einfach nicht zum Leben gemacht»
«Die auffällige Merkwürdigkeit des Lebens» ist ein Roman des schwedischen Journalisten Augustin Erba über das Aufwachsen in einer todtraurigen Familie und darüber, was solch eine Kindheit mit einem macht. Amadeus’ Mutter hat Vorfahren aus dem Haus Habsburg-Lothringen, der Vater ist ein ägyptischer Astrophysiker. Die Familie wohnt in einem prekären Stockholmer Viertel, wo die Nachbarin «ein Streichholz unter einem Löffel anzündet, um zu zeigen, was sie für ein Hobby hat». Schon als Fünfjähriger betet Amadeus jeden Abend zu Gott, «dass Mama nicht sterben solle». Denn diese ist oft krank und wiederholt ständig: «Ich bin einfach nicht zum Leben gemacht.» Das Kind verhandelt mit Gott: «Wenn jemand sterben muss, dann mach bitte, dass es stattdessen Papa trifft. Er fühlt sich hier ja sowieso nicht wohl.»
Aufarbeitung des eigenen Lebens
Amadeus wird Journalist, zieht rastlos um die Welt, bis er seine Frau kennenlernt und die Kindheitsprägungen ihn wieder einholen. «Mein Kind schleicht durch die Wohnung wie ein Hund, der Angst vor Prügel hat», sieht er sich selbst als Vater in Albträumen – und das nach jahrelanger Therapie. Und wenn in der Rückblende detailliert geschildert wird, wie Amadeus als Kind verprügelt wurde, dann will man das Buch eigentlich weglegen, so herzzerreissend ist es geschrieben. Doch dann will man wissen, ob der erwachsene Amadeus den Selbsthass ablegen, sich mit seiner Geschichte und Familie versöhnen kann.
Erbas Roman ist auch die Aufarbeitung seiner privaten Leidensbiografie. Denn der dritte Name des heute 50-jährigen Journalisten, so erfährt man ganz am Ende, lautet Amadeus. Auch Erbas Vater ist ein ägyptischer Wissenschafter, der nach Schweden auswanderte, die Mutter entstammt der Ahnenlinie von Erzherzog Rudolf von Österreich-Ungarn. Erba selbst wuchs in einem armen Stockholmer Vorort auf. Aus den Zeilen spricht die eigene Verletzung, wie der Autor sagt. Die schonungslose Klarheit, die sich in Handlung wie Sprache deutlich zeigt, macht die fehlende Distanz zum Thema sichtbar. Die emotionale Wucht dieser Geschichte wird dadurch umso spürbarer.
Buch
Augustin Erba
Die auffällige Merkwürdigkeit des Lebens
432 Seiten
(Ullstein 2018)
4 Fragen an Augustin Erba
«Es war eine lange Reise, um zu lernen, wie man liebt»
kulturtipp: Augustin Erba, wie autobiografisch ist Ihr Roman?
Augustin Erba: Alle Gefühle im Roman sind wahr, so fühlte sich für mich meine Kindheit an. Einiges ist aber auch fiktiv. Manchmal muss man sich etwas einfallen lassen, um eine «emotionale Wahrheit» erreichen zu können. Ich hatte eine lieblose Kindheit, ähnlich wie Amadeus. Und es war eine sehr lange Reise, um zu lernen, wie man liebt. Ich kann mich immer noch nicht mögen, aber wer weiss, vielleicht lerne ich das eines Tages.
Wie haben Ihre Angehörigen auf den von der eigenen Familiengeschichte inspirierten Roman reagiert?
Eine schlechte Beziehung wird nicht besser, wenn ich ein Buch schreibe und wichtige Elemente weglasse. Ein gutes Verhältnis wird nicht zerstört, wenn ich eine fiktionalisierte Version davon schreibe. Die guten Beziehungen haben die Veröffentlichung in Schweden vor drei Jahren überlebt. Für die schlechten Beziehungen machte es keinen grossen Unterschied. Für einige meiner Verwandten war es jedoch eine schwierige Zeit. Sie haben sich nicht für ein öffentliches Leben entschieden, deswegen habe ich die Darstellung minimiert.
Warum erzählen Sie diese Geschichte aus der Perspektive des Kindes und des jungen Mannes?
Das liegt teils daran, dass die beiden in ständiger Konversation sind, auch wenn sie das nicht wissen. Der erwachsene Amadeus kämpft im Inneren mit dem jungen Amadeus. Der junge Amadeus ist eine dichte und sehr dunkle Persönlichkeit. Amadeus als Erwachsener bringt den Lesern Hoffnung. Sie sehen, wie er mit etwas Unterstützung die Schwierigkeiten einer traumatischen Kindheit überwinden kann.
Sind Sie geschaffen dafür, ein «normales» Leben zu führen?
Ich bin nicht sicher, ob ich ein normales Leben führen kann, wenn normal bedeutet, dass Sie Ihre Existenz nicht jeden Tag in Frage stellen und ständig darum kämpfen müssen, dass Sie gut genug sind. Jeden Tag zu schreiben, regelmässig Sport zu treiben und Isolation zu vermeiden, das hält mich vernünftig.