Eingehüllt in warme Decken, sitzt Gustav Mahler auf dem Sonnendeck des Ozeanriesen «Amerika». Sein müder Blick tastet über den Atlantik, er läutet nach der Bedienung und bestellt Tee. Eine filmreife Szene, skizziert in wenigen Worten, deren scharfe Konturen aber Bilder entstehen lassen, die man beim Lesen nicht nur zu sehen meint, sondern auch zu hören und zu riechen.
Die bildhafte Sprache Robert Seethalers ist bekannt und beliebt. Sein Erstling «Die Biene und der Kurt» packte mit frappanter Lakonie. Lyrisch verknappt porträtierte er den Arbeiter Andreas Egger in «Ein ganzes Leben». Und sein Franzl im Bestseller «Der Trafikant» war so deutlich moduliert, dass die Figur den Sprung ins Kino schaffte.
Nun also nimmt sich der 54-jährige österreichische Autor des Komponisten Gustav Mahler an, den er einen ganzen Kurzroman lang an Deck sitzen lässt – nachdenkend, hadernd und fieberhaft fröstelnd. Seinen Lesenden beschert Seethaler damit Stirnrunzeln. Zeichneten sich seine «Helden» bislang durch eine exemplarische, aber fiktive Randständigkeit aus, präsentiert er nun eine reale Figur, einen Giganten der europäischen Kulturgeschichte. Gustav Mahler (1860–1911) war Stardirigent und führte die abendländische Musik mittels opulenter Kompositionen von der Spätromantik in die Moderne. Diesen fragilen Übergang vom 19. ins 20. Jahrhundert verkörperte er auch mit seiner Biografie.
Mahlers Schicksal ist beispielhaft für seine Zeit
«Er war noch nicht einmal 50 Jahre alt und eine Legende: der grösste Dirigent seiner Zeit und vielleicht aller Zeiten, die noch kommen mochten. Doch diesen Ruhm bezahlte er mit dem Desaster eines sich selbst verzehrenden Körpers.» Mit dieser Umschreibung macht der Autor klar, weshalb Mahler durchaus zur «Seethaler-Figur» taugt. Wie die Schicksale von Andreas und Franzl steht auch jenes von Mahler beispielhaft für eine besondere Zeit. Und wie die beiden Buben wird auch er zum Opfer dieser Zeit. Seit jungen Jahren leidend an Migräne, Hämorrhoiden und Herzschwäche, führte Mahler ein zu intensives Leben und starb mit erst 51 Jahren.
Kurz zuvor kehrte er aus den USA zurück. In diesem Moment schlüpft Seethaler in seine Gedanken und Rückblicke auf ein letztlich unglückliches Leben. «Ich hätte noch so viel mehr komponieren können. Es fühlt sich an, als hätte ich gerade erst angefangen, dabei ist es schon wieder zu Ende», lässt er Mahler hadern. In die Erinnerungen mischen sich auch Erfolgsmomente, das brüchige Glück mit seiner Frau Alma, Begegnungen mit Auguste Rodin oder Sigmund Freud. Wer das Buch aus zeitgeschichtlichem Interesse liest, kommt voll auf seine Rechnung.
Seethaler-Fans werden ihre Stirn aber ein weiteres Mal runzeln, wenn sie mit gewissen Sätzen kämpfen. Denn der Lakoniker hat sich stellenweise der komplexen Ästhetik seines Protagonisten angepasst. Womit sich die Frage nach dem Titel stellt. «Der letzte Satz» kann musikalisch oder sprachlich verstanden werden. Im Roman wird zwar Bezug genommen auf Mahlers Sinfonien, nicht aber auf die unvollendete 10., seine letzte. Sprachlich aber lässt sich so etwas wie ein letzter Satz ausmachen. «Es gibt keine Worte für das Leben, keine für den Tod und keine für die Musik», bilanziert Gustav Mahler. Robert Seethaler hat mit «Der letzte Satz» einmal mehr das Gegenteil bewiesen.
Buch
Robert Seethaler
Der letzte Satz
126 Seiten
(Hanser Berlin 2020)