«Uns in die Städte zu bringen sollte der letzte Schritt unserer Assimilierung sein, unserer Absorption, Auslöschung, die Vollendung einer fünfhundertjährigen Völkermordkampagne», schreibt Tommy Orange. Die Rede ist vom Indian Relocation Act, einem Teil der Indian Termination Policy der 1950er-Jahre, «die genau das war und ist, wonach sie sich anhört».
Auf der Suche nach der eigenen Identität
Tommy Orange, 37 – die Mutter ist weiss, der Vater Cheyenne –, ist Mitglied der Cheyenne und Arapaho Tribes. Seinem Debüt «Dort Dort» stellt er einen Essay voran, in dem er die Geschichte der Native Americans umreisst: Von den Landgeschäften und Massakern der Urbevölkerung, die in Thanksgivings-Feste umgedeutet wurden, über die Darstellungen in Filmen mit Mel Gibson oder John Wayne bis zum Indianerkopf, der noch in den späten 1970ern als imaginäres Abschussziel nach Sendeschluss über die Mattscheiben der Nation flimmerte. «Wir wurden von allen anderen definiert und werden hinsichtlich unserer Geschichte und unseres aktuellen Zustands als Volk nach wie vor verleumdet», schreibt er.
Mit dem Essay skizziert der Autor zugleich die Ausgangslage und das Programm seines Buchs: Die Indianer sind mit der Aufforderung, die Reservate zu verlassen, nicht verschwunden, sie haben sich nicht aufgelöst in den anonymen Massen, im Gewirr der städtischen Bauten oder im Verkehrslärm. «Die Stadt erschuf uns neu, wir machten sie uns zu eigen.»
Zwölf Figuren lässt der Autor auftreten und zeichnet so ein vielstimmiges Porträt einer Gemeinschaft auf der Suche nach der eigenen Identität. Da ist beispielsweise der 21-jährige Tony mit fetalem Alkoholsyndrom, der bei seiner Grossmutter lebt und Drogen dealt. Oder Edwin, der davon träumt, Schriftsteller zu werden und den eigenen Vater kennenzulernen. Blue wiederum wurde zur Adoption freigegeben und sucht ihre Wurzeln in einem Indianerreservat. Da ist auch Dene Oxendene, der das Oral-History-Projekt seines Onkels umsetzt und die Geschichten der Native Americans in einem Film dokumentieren will. Und Opal, der die Mutter kurz vor dem Tod eingeschärft hat, sie dürften niemals aufhören, die eigenen Geschichten zu erzählen.
Ihr ursprüngliches Land ist überall und nirgends
Alle zwölf Figuren lässt Orange beim neuen Big Oklahoma Powwow zusammentreffen – einer Veranstaltung, die städtischen Natives die Möglichkeit bietet, Geld zu verdienen und ihre Tradition zu pflegen. Eine Veranstaltung aber auch, wo die Gemeinschaft in einem Massaker ausgelöscht werden kann oder wo sich zerstreute Familien wiederfinden. Wenn auch ein wenig konstruiert, führt Orange in seinem Roman beide Szenarien und die verschiedenen Erzählstränge zusammen. Er entwirft so auf individueller wie kollektiver Ebene eine moderne archetypische Schicksalserzählung.
«Für die Ureinwohner des ganzen amerikanischen Doppelkontinents ist das alles neu bebautes, vergrabenes Ahnenland, Glas und Beton und Draht und Stahl, unwiederbringliche, bedeckte Erinnerung», schreibt Tommy Orange. Ihr ursprüngliches Land ist überall und nirgends. «Wir sind die Erinnerungen, die wir nicht mehr haben.»
Buch
Tommy Orange
Dort Dort
Aus dem Englischen von Hannes Meyer
288 Seiten
(Hanser Berlin 2019)