Die Welt ist zum Verzweifeln, und darunter leidet ein in Zürich- West lebender Ich-Erzähler: «Und dann höre ich mich zwischen zwei Zügen an der ersten Zigarette des Tages sagen, dass die vielen Tausend, die sterben, ja nur eine Seite der Rätselhaftigkeit und Faszination des Phänomens Krieg ausmachen…» Die andere Seite sind die Täter. Glücklicherweise sind die Gedanken des Ich-Erzählers nicht immer ganz so trübe: «Und dann habe ich die schönste Lesung überhaupt, wie ich finde… » Das Glücksgefühl ist allerdings etwas durchzogen, weil ihm eine Zuhörerin nach der Lesung in Klosters sagt, der Text «sei schwer, aber kunstvoll gearbeitet wie ein Berberteppich».
Staubsaugen bringt keine Erfüllung
Das sind die Befindlichkeiten eines mittelalten Mannes, der sich mit dem Zeitgeist abgefunden hat und dennoch mit ihm kämpft. Autor Heinz Helle, geboren 1978 in München und heute in Zürich lebend, berichtet in «Wellen» von den Freuden und Leiden im Leben, die ihn mal ins kalte Nass runterziehen und dann wieder obenauf surfen lassen. Der Namenlose ist Hausmann, zieht zwei Töchter gross. Die eine heisst Z und ist ein Baby, die andere mit Namen B ist Primarschülerin. Er ist mit einer ebenfalls namenlosen Frau ziemlich glücklich verheiratet, leidet aber unter unerfüllten erotischen Begierden. Auch findet er die gewünschte Erfüllung beim täglichen Staubsaugen und Nuggi-Suchen nicht, obgleich das eigentlich zum Wesen eines emanzipierten Mannes gehörte. Zur Kompensation sehnt er sich nach Skandinavien und stellt sich vor, wie viel besser doch ein Haus am Meer wäre statt seiner Genossenschaftswohnung mit Schimmel im Badezimmer. Dieser Ich-Erzähler ist Schriftsteller und zufälligerweise genauso alt wie Autor Heinz Helle. Man könnte natürlich vermuten, der Protagonist stünde somit dem Autor nahe, sei sogar identisch mit ihm. Aber solche Unterstellungen sind verpönt.
Bisweilen verliert man den Faden
Der Roman packt einen dann am meisten, wenn es dem Selbst-Berichtenden gelingt, seine mitunter etwas verschrobene Erfahrungswelt für die Leserschaft nachvollziehbar zu machen. Zum Beispiel bei den bekannten Covid-Nöten, wie sie die meisten erlebt haben: «Ich verachte sie alle, die selbstgerechten Rauner, Verschwörer und Skeptiker, betreibe privat natürlich genau die gleiche Triumph-des-Willens-Küchenpsychologie in Bezug auf meine eigene Gesundheit …» Wer hat nicht Ähnliches erlebt? Spannend sind auch seine literarischen Querverweise, die er scheinbar locker einstreut, die aber stets dazu dienen, seine Befindlichkeiten zu erklären. Typisch etwa der Hinweis auf die pazifistische Schriftstellerin Pat Barker, die sich in ihren Büchern immer wieder der männlichen Neigung zu Gewaltexzessen annimmt. Der Ich-Erzähler ortet sie auch bei sich selbst, er hat im Zorn einmal einen Wohnzimmertisch umgestossen. Autor Helle lässt seinen Namenlosen in langen Sätzen berichten. Sie sind meist elegant geschrieben, auch wenn man bei der Lektüre mitunter den Faden zu verlieren droht. Unverständlich sind vereinzelte stilistische Ausrutscher, etwa wenn er über eine zu grosse menschliche Toleranz herzieht: «Sie übersieht, wie viele Arschlöcher es gibt, wie viele Scheisse geschieht.» Da könnte dieser namenlose Ich-Erzähler noch etwas an Eleganz zulegen.
Heinz Helle
Wellen
287 Seiten (Suhrkamp 2022)