Von einem Tag auf den andern wird aus der Bosniakin Lejla Begic die Serbin Lela Beric. Das elfjährige Mädchen im neuen Roman von Lana Bastasic streift sich die neue Identität ohne Murren über, denn es herrscht Krieg im Jugoslawien der 90er. Ein serbischer Name ohne muslimischen Hintergrund ist sicherer in dieser finsteren Zeit, in der Lejlas Vater und ihr Bruder spurlos aus Banja Luka verschwunden sind. «Viele Männer sind zu Kriegsbeginn verschwunden, und ihre Angehörigen haben nie herausgefunden, was mit ihnen passiert ist», sagte die Autorin Lana Bastasic an den Solothurner Literaturtagen im Gespräch mit Laura de Weck. «Diese Frage will ich im Buch denn auch nicht beantworten, das wäre, als ob ich mein Land betrügen würde.»
Gemeinsame Suche nach dem Verschollenen
In ihrem Debütroman taucht die Autorin, die zu Kriegsbeginn 5-jährig war, tief ein in die Geschichte ihres Landes, lässt aber bewusst auch vieles in der Schwebe. Im Mittelpunkt stehen zwei ehemalige Freundinnen, die in Banja Luka zusammen in die Schule gegangen sind, unzertrennlich waren: Die besonnene Sara ist die privilegierte Tochter des örtlichen Polizeichefs. Nach der Schule ist sie nach Dublin ausgewandert, um ein neues Leben zu beginnen und als Schriftstellerin Fuss zu fassen. Die wilde Lejla hingegen ist in der Heimat geblieben und meldet sich nach zwölf Jahren Funkstille bei Sara. Ihr Bruder Armin sei in Wien, sagt sie Sara am Telefon, und erwartet, dass diese alles stehen und liegen lässt, um mit ihr nach dem verschollenen Bruder zu suchen. Tatsächlich lässt sich Sara, die als Mädchen heimlich in Armin verliebt war, auf diesen verrückten Roadtrip ein, bucht noch am gleichen Tag ein Flugticket nach Zagreb, von wo aus sie mit dem Bus zu Lejla nach Mostar reisen wird.
Die Vergangenheit fährt mit
Das erste Wiedersehen verläuft distanziert, und doch ist da auch eine eigentümliche Vertrautheit. Hinter Lejlas erblondetem Haar und den blauen Kontaktlinsen erkennt Sara ihre Freundin von früher wieder. Lejlas rabiate, unzimperliche Art ist geblieben, und Sara fällt sofort wieder in die frühere Rolle zurück, als sie als kleines Mädchen versuchte, die Freundin zu beeindrucken. Auf der gemeinsamen Reise in einem Opel Astra quer durch den Balkan Richtung Wien kommen unweigerlich auch Erinnerungen an früher auf. Aber Erinnerungen sind trügerisch: Auch bei gemeinsamen Erlebnissen ist den beiden Unterschiedliches im Gedächtnis haften geblieben. Doch so viel wird klar: Die Vergangenheit lässt sich nicht ausblenden, auch wenn man wie Sara ein «europäisches Hipsterleben» führt.
Lana Bastasic erzählt die Geschichte der ungleichen Freundinnen aus Saras Perspektive. Als Tochter serbischer Eltern habe sie es sich nicht anmassen wollen, aus der Sicht eines muslimischen Mädchens in Bosnien zu erzählen, sagt die Autorin, die selbst in Banja Luka aufgewachsen ist. Mit 25 hat sie Bosnien wie ihre Protagonistin Sara verlassen. Trotz abgeschlossenem Anglistikstudium fand sie keine passende Arbeit in ihrer Heimat und ist nach Irland und später nach Barcelona ausgewandert, wo sie etwa ein spanisches Literaturmagazin herausgab und in der Nacht an ihrem ersten Roman schrieb. Damit der in Serbokroatisch verfasste Roman auch einem breiteren Publikum zugänglich wird, hat die sprachbegabte Autorin ihn kurzerhand selbst ins Englische übersetzt. Inzwischen wurde «Fang den Hasen» mit Preisen ausgezeichnet und in 13 Sprachen übersetzt. Noch bis Ende Juni ist sie auf Einladung des Literaturhauses als Writer in Residence in Zürich zu Gast, bevor sie nach Belgrad zurückkehrt, wo sie inzwischen vom Schreiben leben kann.
Metaphernreiche und spielerische Sprache
Die 34-jährige Autorin hat für ihre Geschichte, in der sie gekonnt die Gegenwart mit der Vergangenheit verknüpft, eine eigene metaphernreiche und spielerische Sprache gefunden. «Der Balkan ist für mich vor allem eine Farbe, keine Ortsbezeichnung. Namen vergisst man leichter, sobald man mit neuen Wörtern, neuen Karten lebt, schmelzen die Buchstaben wie Zucker auf der Zunge. Aber Farben bleiben bestehen, wie Flecken unter den Lidern», heisst es etwa aus der Sicht ihrer Protagonistin Sara, als diese im Flugzeug über Zagreb sitzt.
Die Finsternis wird zu einer wiederkehrenden Metapher, etwa als Sara an Armins Verschwinden zurückdenkt: «Ich erinnere mich nur, dass die Stadt anders war, als ob ihr jemand alle Lebensgeister ausgesaugt hätte. Es gab immer mehr Dunkelheit …». Und auch die beiden Freundinnen in der Gegenwart fahren einer «unüberwindbaren Finsternis» entgegen, die schon um drei Uhr nachmittags um sich greift und Sara entsetzt, während Lejla gelassen reagiert. Diese tiefe Dunkelheit am Nachmittag mutet surreal an und lässt wie andere Szenen im Buch an «Alice im Wunderland» denken – ein Alice-Zitat stellt Lana Bastasic auch ihrem Buch voran. Diese fantastischen Elemente habe sie bewusst gewählt, um daran zu erinnern, dass sie in ihrem Roman nicht eine historische Wahrheit beschreibe, sondern dass es sich um Fiktion handelt, sagte die Autorin an den Solothurner Literaturtagen.
Trotz aller Düsternis findet Bastasic für ihre Geschichte aber einen leichten, auch humorvollen Ton und sorgt für ein packendes Leseerlebnis. Mit diesen beiden Freundinnen macht man sich gerne auf eine Reise durch den Balkan, die so manche Überraschungen bereithält. Und nicht zuletzt bietet das Buch einen tiefen Einblick in eine Region, die noch heute vom Krieg geprägt ist.
Buch
Lana Bastasic
Fang den Hasen
Aus dem Bosnischen von Rebekka Zeinzinger
336 Seiten
(Fischer 2021)