Eine muslimische Türkin und ein christlicher Grieche – zwei Menschen, eine grosse Liebe. Eine Beziehung allerdings, die 1974 auf der Mittelmeerinsel Zypern nicht sein darf. Defne und Kostas sind noch ganz jung, als sie sich kurz vor Ausbruch des Bürgerkriegs in Nikosia ineinander verlieben. Ihr geheimer Treffpunkt wird die Taverne «Die glückliche Feige», die von einem schwulen, griechisch-türkischen Wirtepaar betrieben wird. Ein Ort, wo die Menschen einfach Menschen sein können, unabhängig von Herkunft, Religion oder sexueller Orientierung. In der Mitte der Taverne steht ein prächtiger Feigenbaum, der Zeuge wird von fröhlichen Abenden – und schliesslich vom Grauen, als eine Bombe mittendrin explodiert.
Rund vier Jahrzehnte später steht ein Ableger dieses Feigenbaums in London und erzählt die Geschichte «der einzigen geteilten Hauptstadt Europas» – und der Liebe von Defne und Kostas. Denn kurz nach der Explosion wird Kostas von seiner Mutter überstürzt nach London geschickt. Seiner Defne kann er nur noch einen Brief hinterlassen. Die beiden werden sich erst Jahrzehnte später in Zypern wiedersehen – und sich erneut ineinander verlieben. Kostas ist inzwischen Naturwissenschafter, und Defne arbeitet für das UN-Komitee für vermisste Personen und sucht nach Opfern des Bürgerkriegs. Deren Geschichten beruhen teilweise auf wahren Begebenheiten, wie Elif Shafak im Nachwort schreibt.
Nahtlos verwebt die Autorin verschiedene Zeitebenen: Sie blendet vom Liebesbeginn in den 1970ern über das Wiedersehen in den 2000ern bis in die Gegenwart, in der Defnes und Kostas’ 16-jährige Tochter Ada in London im Mittelpunkt steht. Dazwischen steht immer wieder der Bericht des Feigenbaums, der durch Kostas’ liebevolle Pflege den Kulturschock überwunden hat. Durch diesen erzählerischen Kniff kann Shafak eine andere Perspektive einnehmen: den Blickwinkel eines weisen alten Baums, der die Zwiste der Menschen aus wohlwollender Distanz betrachtet, die Entwurzelung und die Sehnsucht nach der Heimat aber selbst kennt.
Eine wärmende Lektüre für kalte Tage
Die türkische Bestsellerautorin und Politologin lebt selbst im Exil: In ihrer Heimat wurde sie wegen «Beleidigung des Türkentums» angeklagt (und freigesprochen), weil sie über den Genozid an Armeniern geschrieben hatte. Seit Jahren lebt sie in London – und wünscht sich, wie sie im Buch schreibt, sie hätte wie ihr Protagonist einen «Baum vom Mittelmeer mit tragbaren Wurzeln» ins Exil mitgenommen. Elif Shafak ist eine fantasievolle Geschichtenerzählerin: In ihrem Roman haben die üppig-sinnliche und märchenhaft-mystische Erzählweise genauso Platz wie die fundierte Gesellschaftskritik. Mit Leichtigkeit verhandelt sie Themen wie Migration, Entwurzelung und Erinnerung, aber auch die Beziehung von Mensch und Natur. Der fast 500-seitige Schmöker sorgt für eine packende und herzerwärmende Lektüre und ist ein Plädoyer für die bunte Vielfalt von Mensch und Natur.
Gespräch
Elif Shafak zum Thema «Politik – Gesellschaft – Literatur: Zwischen Ost und West»
(auf Englisch)
Di, 16.11., 18.30 Aula KOL-G-201, Universität Zürich
Livestream: www.siaf.ch/streaming/elif-shafak
Buch
Elif Shafak
Das Flüstern der Feigenbäume
512 Seiten
(Kein & Aber 2021)