Die Regale im Supermarkt leeren sich, der Strom fällt immer wieder aus, das Leitungswasser ist erst braun, dann fliesst es gar nicht mehr. Im Roman «Das Lied des Propheten» von Paul Lynch verwandelt sich Irland innerhalb kürzester Zeit in einen Sicherheitsstaat, während der Rest Europas empört, aber tatenlos zuschaut. «Für die übrige Welt sind wir jetzt Fernsehen», stellt Molly Stack fest.
Der Vater von Molly verschwindet spurlos
Die Teenagerin ist eines von vier Kindern von Molekularbiologin Eilish Stack, die ihre Familie gegen sämtliche äusserlichen Widerstände verteidigt und darum kämpft, alle zusammenzuhalten. Denn draussen holen lautlose zivile Autos von einer neu gegründeten irischen Geheimpolizei Menschen von der Strasse.
Spurlos verschwindet auch Larry, der Mann von Eilish, der zusammen mit der Lehrergewerkschaft zu landesweiten Demonstrationen aufgerufen hat. In der Hoffnung, dass er zurückkehrt, und wegen ihres demenzkranken Vaters, um den sie sich kümmert, bleibt Eilish trotz der zunehmend bedrohlichen Lage in Dublin.
«Die Geschichte ist eine stumme Liste derer, die nicht wussten, wann sie gehen müssen», schreibt Paul Lynch in seinem beklemmenden Roman, für den der irische Autor mit dem Booker Prize 2023 ausgezeichnet wurde.
Aber wann ist der richtige Zeitpunkt, sein Zuhause, sein bisheriges Leben angesichts politischer Entwicklungen, die man bislang nur aus dem Fernsehen kannte, zurückzulassen? Wenn die Gerichte mundtot gemacht, Proteste unterdrückt, Gesetze und Verfahren willkürlich geändert werden? Oder wenn die Schulen schliessen, Teenager in den Wehrdienst eingezogen und Kinder gefoltert werden?
Wachsender Druck auf die Mittelklassefamilie
Der Alltag der Protagonistin und ihrer Kinder wirkt immer bedrückender, die Situation ausweglos. Die Verzweiflung und die Angst vor dem Ungewissen übertragen sich auf den Leser. Klug baut Paul Lynch das bedrohliche Szenario auf.
Das Geschehen erzählt er aus Sicht von Eilish Stack, einer direkt Betroffenen. Diese Perspektive macht die verstörende Handlung besonders eindringlich und emotional. Wird die Mittelklassefamilie am Ende selbst zu Geflüchteten?
Hat man sich an den ausschweifenden Stil gewöhnt – Schachtelsätze, keine Absatzumbrüche und Dialoge ohne Anführungszeichen –, entlarvt Lynchs Roman schonungslos den Opportunismus mancher Menschen, die sich plötzlich inmitten einer Krise wiederfinden, und offenbart das unermessliche Leid anderer.
Im Gegensatz zu Margaret Atwoods Klassiker «Der Report der Magd», in dem die Demokratie in Teilen Nordamerikas schon gestürzt wurde, schildert Paul Lynch die Anfänge und den schleichenden Wandel hin zu einem brutalen Terrorregime. Sein Roman sei keine Dystopie, betont er in Interviews.
Tatsächlich ist Lynchs Erzählung zwar eine düstere, in der nahen Zukunft spielende Fiktion, für viele Menschen sind die dramatischen Ereignisse aber längst Realität.
Buch
Paul Lynch
Das Lied des Propheten
Aus dem Engl. von Eike Schönfeld
320 Seiten
(Klett-Cotta 2024)