«Dann kam der Tag, an dem Addie Moore bei Louis Waters klingelte. Es war an einem Abend im Mai, kurz bevor es endgültig dunkel wurde.» Die ersten beiden Sätze im Roman, auf die gleich Addies Angebot folgt: «Ich wollte fragen, ob du dir vorstellen könntest, hin und wieder zu mir zu kommen und bei mir zu schlafen.» Sie möchte einfach reden – «kein Sex».
Gedankenaustausch über das Leben
Zwei langjährige Nachbarn begegnen sich, zwei Menschen, beide verwitwet, beide etwas über 70 Jahre alt und einsam. Warum gerade er, man kenne sich ja kaum? «Weil ich glaube, dass du ein guter Mann bist. Ein freundlicher Mann.»
Louis’ Besuche werden zum Ritual. Miteinander reden, nebeneinander schweigen. In intimem Gedankenaustausch lassen die beiden Alten Momente aus ihrem gelebten und ungelebten Leben Revue passieren. Das hilft, ihre Einsamkeit zu überwinden.
Das Glück könnte für die beiden im letzten Lebensabschnitt auf sie warten. Es ist ihnen nicht vergönnt. Zu gross ist die regelrechte Empörung vor allem von Addies Sohn, der in Louis einen Erbschleicher vermutet. Überhaupt scheint ihm die ganze Situation mit der nächtlichen Zweisamkeit unangemessen – Kinder können mitunter biederer sein als ihre Eltern. Addie zieht schliesslich weg, in die Nähe ihrer Familie. Die beiden Alten können nur noch telefonieren.
«Unsere Seelen bei Nacht» ist der letzte Roman des US-Autors Kent Haruf (1943–2014). Er konnte das Manuskript kurz vor seinem Tod beenden. Wie alle seine fünf Romane spielt auch dieser in der fiktiven Kleinstadt Holt im realen Bundesstaat Colorado. Harufs Erzählton ist ungekünstelt-schlicht, mit Vorteil für diesen letzten Roman, der so ganz unsentimental und unkitschig daherkommt.
«Unsere Seelen bei Nacht» ist bereits verfilmt worden, allerdings nicht fürs Kino: Robert Redford und Jane Fonda spielen das «unsittliche» Paar Louis und Addie in einer aktuellen Produktion für das Streaming-Portal Netflix.
Buch
Kent Haruf
«Unsere Seelen bei Nacht»
208 Seiten (Diogenes 2017).