Männer, die mit Männern verheiratet werden. Mittellose Nachkommen der hawaiianischen Königsfamilie und Menschen, die wie Astronauten in Kühlanzügen durch New York City spazieren. Es sind viele wundersame Geschichten, die Hanya Yanagihara in ihrem neuen, 900-seitigen Roman «Zum Paradies» beschreibt.
Bereits der Vorgänger «Ein wenig Leben» (2015), eines der bestverkauften Werke der vergangenen Jahre, war eine ebenso schockierende wie gefühlsgewaltige Tour de Force über eine jahrzehntelange, unkonventionelle Männerfreundschaft. Eine einzige Übertreibung von Liebe, Empathie und Scham, von Gewalt und Grauen. «Zum Paradies» ist wieder ein Ungetüm von einem Buch.
Der erste Teil spielt im Jahr 1893. Aber etwas ist anders. In diesem New York ist die gleichgeschlechtliche Ehe bereits zulässig. Nicht nur das, sie ist sogar die Norm. Im zweiten Teil, angesiedelt anno 1993, wütet eine namenlose, lediglich als «die Krankheit» bezeichnete Seuche durch die Schwulenszene, während der dritte und längste Teil den Alltag im Jahr 2093 darstellt.
Bis hin zu einem endzeitlichen Geschehen
Verbindendes Element ist ein Haus am Washington Square als zentraler Handlungsort. Und in jeder der drei Zeitebenen gibt es Hauptfiguren namens David, Charles und Edward. Während die erste Erzählung «Washington Square» an den gleichnamigen Klassiker von Henry James aus dem Jahr 1880 angelehnt ist, erinnert die zweite, «Lipo-Wao-Nahele», an Rebecca Makkais Epos «Die Optimisten» (2018) über die Aids-Epidemie in den 1980ern.
Doch im Gedächtnis bleibt vor allem der letzte Teil, «Zone Acht». Die 47-jährige New Yorker Autorin zeichnet darin eine verstörende Zukunft. Erzählt wird die Dystopie aus Sicht von Charlie Griffith – der einzigen weiblichen Protagonistin in den drei Geschichten. In der Lebenswelt der autistisch wirkenden Labortechnikerin, die an den Langzeitfolgen einer Krankheit und eines Medikaments leidet, ist Einkaufen nur zu zugeteilten Zeiten möglich. Es gibt kein Internet, keine Bücher, kein Fernsehen. Reisen ist verboten. Eisdielen wurden zu Luftduschen umfunktioniert, um kein Wasser zu verbrauchen. Vor diesem endzeitlichen Hintergrund versucht Charlie herauszufinden, wohin ihr Mann jeden Donnerstagabend verschwindet.
Beklemmend nahe an der gegenwärtigen Realität
Wie in «Ein wenig Leben» schreibt Yanagihara sehr detailgetreu und ausschweifend. Es erfordert Konzentration, ihrer nicht linearen Dramaturgie zu folgen. Immer wieder platziert sie eigenständige Geschichten innerhalb der Rahmenhandlung, die sie in den einzelnen Strängen wieder aufgreift. Um den Leser bei Laune zu halten, deutet sie in jeder Erzählung ein jeweils anderes unheilvolles Ereignis an.
Während sie in den ersten beiden Teilen mit der Konstruktion alternativer historischer Szenarien spielt, ist der dritte beklemmend nahe an der gegenwärtigen Realität – obschon Yanagihara in Interviews betont, dass die Idee dazu schon vor der Pandemie entstanden sei. Sie hinterfragt Geschlechterrollen und streift heikle Themen wie Klimawandel, Kolonialismus und kulturelle Aneignung. «Zum Paradies» ist ein überbordender Roman, der den Leser beinahe verschlingt. Ein fantasievolles Wunderwerk, in das man immer tiefer eintaucht und aus dem man am Ende nach Luft ringend und mit vielen Fragen wieder emportaucht.
Buch
Hanya Yanagihara
Zum Paradies
Aus dem Englischen von Stephan Kleiner
896 Seiten
(Claassen 2022)