Mit der Schlüsselszene zu Beginn katapultiert Jacqueline Woodson ihre Leserinnen und Leser mitten hinein in diese Familiengeschichte: Die 16-jährige Melody feiert im New Yorker Bezirk Brooklyn ihre Volljährigkeit, wie es in ihrer Familie schon Generationen vor ihr getan hatten: Mit einem Orchester, Tänzen und der Jubilarin im weissen Kleid aus Seide und Satin, darunter Korsett, Strumpfhalter und Seidenstrümpfe. Ebendieses Kleid dient als Sprungbrett in die Vergangenheit. Melodys Mutter Iris sollte es einst tragen, doch das Fest fiel aus, da die knapp 16-Jährige schwanger war und sich der Babybauch bereits abzeichnete unter dem Stoff.
16 Jahre später schreitet Melody in diesem Kleid die Treppe herab – stolz beobachtet von ihrem Vater Aubrey und den Grosseltern, in deren Haus sie aufgewachsen ist. Das Verhältnis zur Mutter hingegen ist kühl: «Scheint so, als wäre mittlerweile alles ein Wettstreit. Irgendwann bin ich zu deiner Feindin geworden», heisst es aus Melodys Perspektive. Denn Iris hatte ihre kleine Tochter und ihren Freund Aubrey früh verlassen und war zum Studium in ein weit entferntes College geflüchtet. Hier wollte sie ihr eigenes Leben führen und verliebte sich in eine Mitstudentin, bei der sie ihre Tochter als ihre Schwester ausgab.
«Die Weissen kamen mit brennenden Fackeln»
Die Ambivalenz der Mutterschaft ist eines der Themen, welches die US-Autorin in ihrem Roman «Alles glänzt» anspricht und dabei gleichermassen aus Melodys und Iris’ Perspektiven berichtet. Ihr Roman nimmt abwechselnd aber auch die Blickwinkel vom treu sorgenden Vater Aubrey, von Grandma Sabe und Grandpa Po’Boy ein und erzählt in je eigenem Tonfall die Geschichte einer afroamerikanischen Familie, deren tiefgreifende Erfahrungen mit Rassismus sich bis in die Gegenwart erstrecken.
Melodys Urgrossmutter hatte 1921 als Kind das Massaker von Tulsa knapp überlebt. Das Trauma hat auch die kommenden Generationen geprägt. «Diese Weissen kamen mit brennen-den Fackeln und brennendem Zorn», erinnert sich Melodys Grossmutter, welche die Geschichte von ihrer Mutter immer und immer wieder erzählt bekommen und an ihr eigenes Kind und ihre Enkelin weitergegeben hat. Iris will sich allerdings nicht von dieser Tragödie vereinnahmen lassen und sucht – wie später ihre Tochter Melody – nach ihrer eigenen Identität.
Die vielfach prämierte, 58-jährige US-amerikanische Bestsellerautorin Jacqueline Woodson, die mit ihrer Frau und zwei Kindern in New York lebt, hat bereits in ihren Jugendbüchern Themen wie Klassenzugehörigkeit, Herkunft und Rassismus verhandelt. Auch in ihrem zweiten Roman für Erwachsene findet sie dafür starke, berührende Bilder. Aus Fragmenten lässt sie nach und nach das Bild einer Familie entstehen, die von der Vergangenheit geprägt ist und doch zukunftsgerichtet und hocherhobenen Hauptes ihren Weg geht.
Jacqueline Woodson
Alles glänzt
Aus dem US-amerikanischen Englisch von Yvonne Eglinger
208 Seiten
(Piper 2021)