«Soll ich erzählen, dass ich bei jedem neu hinzugekommenen Kind entgegen jeder Vernunft dachte: Dieses ist es. Dieses wird mich glücklich machen. Dieses wird mein Leben vervollständigen. Dieses wird mich für die jahrelange Suche entschädigen.» Dies sind die Worte des Kinderschänders Norton Perina. Der US-Wissenschafter steht im Mittelpunkt in Hanya Yanagiharas Roman «Das Volk der Bäume». Perina hat in den 50ern für seine Forschung auf einer Südsee-Insel den Medizinnobelpreis erhalten. Sein Ruhm endet, nachdem bekannt wird, dass er Kinder, die er von seiner Reise zu sich nach Hause geholt hat, sexuell missbraucht hat.
Sinnlichkeit und Plastizität der Darstellungen
Die detailversessene Schilderung der US-Autorin führt zu einem intensiven Leseerlebnis. Meist ist es der Protagonist Norton Perina selbst, der seine Sicht der Dinge erzählt in dieser fiktionalen Biografie. Dazwischen berichtet sein Assistent vom Geschehen und greift auch immer wieder erklärend in die Geschichte ein. Stück für Stück, wie eine Zwiebel, wird die Figur geschält. Die Leser nehmen teil am Alltag des ehrgeizigen Mannes – und an seinem Aufstieg und Absturz.
Ohne den weltweiten Erfolg des Bestsellers «Ein wenig Leben» wäre Yanagiharas Erstling wohl kaum in deutscher Sprache erschienen. Stephan Kleiner, der Übersetzer beider Romane, haben vor allem die Sinnlichkeit und Plastizität von Yanagiharas Darstellungen überzeugt, wie er auf Anfrage sagt.
Beide Romane handeln von sexuellem Missbrauch. Während in «Ein wenig Leben» das Opfer zu Wort kommt, steht im Roman «Das Volk der Bäume» der Täter im Mittelpunkt. Als Vorlage zur Hauptfigur diente der Autorin der US-Medizin-Nobelpreisträger Daniel Carleton Gajdusek (1923–2008). Auch er unternahm Forschungsreisen zu den auf den Südseeinseln lebenden Urvölkern und brachte rund 50 Kinder nach Hause mit. 1997 wurde er wegen sexuellen Missbrauchs an seinen Zöglingen verurteilt. Sie habe immer gewusst, dass sie über ihn schreiben würde, bemerkt Yanagihara im Vorwort: «Gajdusek war als Figur einfach zu gut, um ihn dem Vergessen anheimfallen zu lassen.»
Uneinsichtigkeit und Selbstbemitleidung
Im Roman kann Perina nicht verstehen, dass er verurteilt wird. «Ich hatte den Wert meiner Grosszügigkeit überschätzt», klagt er über die Anschuldigungen der Kinder. Er sei verraten, gedemütigt, gekränkt worden, bemitleidet er sich. Ein Kinderschänder, der seine Taten nicht hinterfragt – ist diese Geschichte eine Monstrosität auf dem Rücken der Opfer? «Wenn ein grosser Mann schreckliche Dinge tut, ist er dann noch ein grosser Mann?», fragt die Autorin im Vorwort. In Zeiten von #MeToo eine hochaktuelle Frage: Können Werk und Person bei Vorwürfen des sexuellen Missbrauchs getrennt voneinander betrachtet werden? Die Antwort überlässt Yanagihara ihren Leserinnen, doch im Buch kritisiert Perinas Assistent: «Tatsächlich haben sie ihn verurteilt und verstossen, bevor er offiziell verurteilt und verstossen wurde.» Der treue Freund glaubt bis zum Ende an Perinas Unschuld.
Buch
Hanya Yanagihara
Das Volk der Bäume
Aus dem US-Amerikanischen von Stephan Kleiner
480 Seiten
(Hanser 2019)