Mitte des 19. Jahrhunderts hatte der viktorianische Schriftsteller Charles Dickens den Fortsetzungsroman «David Copperfield» in einer Zeitschrift veröffentlicht. Er sollte unterhalten und gleichzeitig als bissige Sozialkritik die Klassenunterschiede in England jener Zeit illustrieren. Genau darauf zielt auch die US-amerikanische Autorin Barbara Kingsolver ab. Ihr Roman «Demon Copperhead» überträgt das Schicksal des viktorianischen David in die heutige Zeit, die ebenso von «struktureller Armut» geprägt sei.
Die Erzählung hält sich eng an das Original, spielt aber in den südlichen Appalachen in der Zeit um das Jahr 2001 mit dem Terroranschlag auf das World Trade Center. Auch die Sprache hat die Autorin der Zeit angepasst. Der Ich-Erzähler Demon berichtet von seinem Schicksal im Jargon des Heranwachsenden, ähnlich wie seinerzeit Holden Caulfield, den man aus dem legendären Roman «Der Fänger im Roggen» kennt.
Die Mutter ein Junkie, der Stiefvater gewalttätig
Der kleine Demon hat einen denkbar schlechten Start ins Leben. Seine Junkie-Mutter bringt ihn in einem Wohnwagen zur Welt, der Vater ist längst über alle Berge. In seiner Kindheit muss Demon die Misshandlungen seines Stiefvaters aushalten und schon früh für sein eigenes Auskommen sorgen, etwa als Sortierer auf einer Abfallhalde. Er lernt fürs Leben, aber nicht in der Schule, wo die «Bullen diesen Gras-macht-dich-verrückt-Quatsch erzählten».
Vielleicht hätte er besser etwas genauer hingehört, denn zusammen mit dem hilflosen Mädchen Dori rutscht er selbst tief in die Medikamenten- und Drogensucht ab. Kingsolver berichtet im Stil einer Sozialreportage von Demons Elend, der zeitweise unter konstantem Beschaffungsstress leidet: «Sucht ist nichts für Faule.»
Obgleich mit jedem Absturz ein neuer Schicksalsschlag einhergeht, kann sich Demon immer wieder aufrappeln. Er ist ein begnadeter Künstler, der seine Erfüllung im Comiczeichnen findet. Doch wie Dora bei Charles Dickens nimmt auch Dori bei Kingsolver ein trauriges Ende.
Ihr erster Roman, der in Europa Beachtung findet
Die 69-jährige Autorin ist in der angelsächsischen Welt eine literarische Grösse, die zahlreiche Preise erhalten hat. Noch kennt man sie in Kontinentaleuropa weniger, aber mit «Demon Copperhead» hat sie nun die Beachtung der Feuilletons gefunden. Die Kritik ist zwiespältig, denn der Roman hat seine Längen.
Die schier unendliche Schilderung des sozialen Elends in der US-amerikanischen Provinz ist streckenweise ermüdend: «Ich war verprügelt und belogen worden, tagelang stoned und wochenlang hungrig gewesen.» So ist das Leben in Lee County, «der Welthauptstadt der Lose-lose-Situation».
Dabei sind gar nicht alle so schlecht, wie Demon zugeben muss: «Diese Leute, diese Vegetarier und so, die Gerechtigkeit für alle Rassen und Schwulen fordern ...» Aber leider hat er auch von denen nichts zu erwarten, «denn die glauben, dass wir hier vollkommen hirnlos sind und Tiere ficken».
Der Entwicklungsroman ist eine herausfordernde Lektüre. Aber schon das Original von Charles Dickens war seinerzeit ebenso wenig eine Gutenachtgeschichte.
Buch
Barbara Kingsolver
Demon Copperhead
Aus dem US-Englischen von Dirk van Gunsteren
832 Seiten
(DTV 2024)