Der junge Mehdi, von allen «Karl Marx» genannt, hat Grosses vor: Er will schreibend gegen die Ungerechtigkeit in seinem Land vorgehen, das 1968 von König Hassan II. mit harter Hand regiert wird. In diesen grosse Reden schwingenden Hitzkopf verliebt sich die junge Ärztin Aïcha, die in Strassburg studiert hat und nun in ihr Heimatland Marokko zurückgekehrt ist.
Die Liebe zwischen den beiden wird von längerer Dauer sein als Mehdis Idealismus: Er schlägt eine Beamtenkarriere ein und gehört plötzlich selbst zum «Clan der Mächtigen », deren Luxus er geniesst – nicht ohne sich zuweilen als Verräter zu fühlen. Von solcher Doppelmoral erzählt die französisch-marokkanische Schriftstellerin Leïla Slimani in ihrem Roman «Schaut, wie wir tanzen» – dem zweiten Teil ihrer autobiografisch inspirierten Familientrilogie, der aber auch ohne Vorkenntnisse des ersten Teils bestens verständlich ist.
Die Rollen sind klar getrennt
Die Fortsetzung spielt Ende der 60er: Marokko ist unabhängig, aber die französische Kolonialzeit hat Spuren hinterlassen, die Kluft zwischen Arm und Reich ist nach wie vor gross. In dieser turbulenten Übergangszeit will sich die scheue Aïcha als Gynäkologin etablieren und sich in der patriarchal geprägten Gesellschaft durchsetzen.
Ihr Mann Mehdi liebt sie zwar, doch die Rollenverteilung ist klar, wie es Slimani in einer Alltagsszene beiläufig beschreibt: «Er betrat selten die Küche, und wenn, dann blieb er an der Tür stehen und verlangte etwas zu trinken.»
Wie bereits im ersten Teil «Das Land der anderen» hat Slimani einen vielschichtigen Familienroman geschaffen, der mit einem psychologisch fein ausgefeilten Figurenrepertoire unterschiedliche Themen anspricht. Die Autorin stellt ihre Figuren nicht an den Pranger, sondern zeigt sie als Menschen in ihrer ganzen Widersprüchlichkeit: So wird Aïchas Vater Amine zwar als unnachgiebiger und untreuer Ehemann dargestellt, aber Leïla Slimani lässt auch seine Verletzlichkeit aufscheinen.
Süffig erzählter Familienroman
Amine hat sich seine florierende Farm und den Wohlstand hart erkämpft, ist aber dennoch unzufrieden: «Solange er kämpfte, bedroht von den anderen, der Natur, seiner eigenen Erschöpfung, fühlte er sich stark. Doch das leichte Leben, der Erfolg, der Überfluss machten ihm Angst. Sein Körper war vergiftet, aufgeblasen vor bürgerlicher Selbstgefälligkeit.»
Aïchas Bruder Selim wiederum flüchtet vor den hohen Ansprüchen seines Vaters und schliesst sich den Hippies an. Und die stille Stärke von Aïchas elsässisch-stämmiger Mutter Mathilde, die stets unter dem Joch ihres Gatten stand, wird sich erst im Verlauf des Romans herauskristallisieren. In diesem süffig erzählten Familienroman wird Slimani all ihren Figuren gerecht und schafft das Bild eines Landes zwischen Stillstand und Aufbruch.
Buch:
Leïla Slimani - Schaut, wie wir tanzen
Aus dem Franz. von Amelie Thoma
384 Seiten (Luchterhand 2022)
6 Fragen an Übersetzerin Amelie Thoma zu Leïla Slimanis Sprache - «Ich lasse mich vom Text führen wie von einem Tanzpartner»
kulturtipp: Sie haben bereits mehrere Bücher von Leïla Slimani übersetzt. Was ist die Besonderheit von Slimanis Sprache?
Amelie Thoma: Man kann nicht sagen, dass Leïla Slimani «eine» Sprache hat. In ihren ersten beiden Romanen «All das zu verlieren» und «Dann schlaf auch du» schrieb sie ungeheuer knapp, fast berichtend. Dass es dennoch literarisch klang, lag am Rhythmus ihrer Sätze und an besonderen Vokabeln, die sie einstreut. Mit so wenig, aber ganz präzise verwendetem Material in der Übersetzung zu arbeiten, ist nicht einfach. In den ersten beiden Romanen der Familientrilogie scheint ihre Liebe zu den grossen Klassikern durch. Im neuen Roman wird sie epischer, ohne weniger modern zu klingen, und dann auch wieder ganz knapp. Das ist manchmal ein Drahtseilakt in der Übersetzung.
kulturtipp: Auf Ihrer Website schreiben Sie vom Glücksgefühl, wenn es gelingt, Texte von einer Sprache in die andere hinüberschwingen zu lassen. Wie gelingt das bei Slimanis Texten?
Amelie Thoma: Ich müsste lügen, wenn ich sagen würde, dass ich dafür eine «Technik » habe. Am Anfang der Arbeit steht die inhaltliche und sprachliche Analyse des Textes. Dann muss man ein wenig abrücken und spüren, wie sich das anfühlt, was da steht, und warum. Dies dann in die Zielsprache zu übertragen, gelingt manchmal rein handwerklich, indem man Sätze ebenso knapp oder verschachtelt konstruiert wie das Original oder eine deutsche Vokabel sucht, in der ähnliche Zwischentöne mitschwingen wie im Französischen. Manchmal erfolgt es aber auch intuitiv mit Kleinigkeiten wie einer Wortumstellung, die den Rhythmus ändert.
kulturtipp: Slimani findet für verschiedene Szenen unterschiedliche Schreibweisen: So bildet sie etwa den Drogenrausch der westlichen Hippies in Marokko in rauschhafter Sprache ab und Mehdis Liebessehnsucht in schwelgerischen Worten. Wie gelingt es, diese unterschiedlichen Tonarten in der Übersetzung beizubehalten?
Amelie Thoma: Indem man sich vom Originaltext führen lässt wie von einem Tanzpartner. Ich versuche im ersten Schritt, immer so nah wie möglich am Original zu bleiben. Wenn das dann im Deutschen nicht gut klingt, rücke ich ab, ganz behutsam, Schritt für Schritt. Je besser der Originaltext geschrieben ist, desto eher gelingt es auch, eine schöne Übersetzung daraus zu machen, selbst wenn es auf den ersten Blick leichter erscheint, einen stilistisch anspruchslosen Originaltext zu übersetzen.
kulturtipp: Schaffen Sie auch Eigenkreationen? Wie viel Platz für eigene Kreativität bleibt?
Amelie Thoma: Eigenkreation ist beim literarischen Übersetzen unerlässlich. Wenn sich Sprache einfach eins zu eins übertragen liesse, dann könnten das wirklich Algorithmen machen. Sobald ich das Gefühl habe, das gedankliche oder emotionale Konzept des Originals lässt sich im Deutschen nicht so ausdrücken, gehe ich ganz auf Abstand zum Text und überlege mir: Wie würde ich diese Situation, diese Empfindung beschreiben? Klang und Rhythmus sind für mich beim Übersetzen ungeheuer wichtig, und ich fälle viele lexikalische und syntaktische Entscheidungen nach diesen Kriterien. Allerdings sollte man sich auch dabei am Original orientieren.
kulturtipp: Sind Sie Leïla Slimani bereits begegnet, und haben sich mit ihr über ihre Sprache und Ihre Übersetzung ausgetauscht?
Amelie Thoma: Ja, ich bin ihr oft begegnet, und wir haben uns am Rande auch über die Sprache und Übersetzung ausgetauscht. Sie sagte einmal, sie habe bei Lesungen in Deutsch- land das Gefühl, in meinen Übersetzungen den Rhythmus ihrer Texte wiederzuerkennen, was mich ungeheuer gefreut hat. Ich kann sie auch fragen, wenn ich bei der Auslegung einer Stelle nicht weiterkomme. Ich tue dies jedoch nur im Notfall, weil ich weiss, dass sie, genau wie ich, findet, dass es der Job der Übersetzerinnen ist, ihre Texte in deren Muttersprache zu übertragen. Und dass ihre eigene Kompetenz in dieser Hinsicht beschränkt ist.
kulturtipp: Was bewirkt Slimani mit ihrer gesellschaftskritischen Literatur?
Amelie Thoma: Das, was alle gute Literatur kann: Debatten anstossen, Themen in die öffentliche Wahrnehmung bringen, andere Blickwinkel bieten und Horizonte erweitern.