Sie sind Freundinnen und Rivalinnen – und verlieren sich fast 50 Jahre aus den Augen: Anita und Giulia wachsen Ende des 19. Jahrhunderts im piemontesischen Dorf Borgo di Dentro zusammen auf. Beide müssen bereits als Mädchen in der Seidenspinnerei schuften, wo sie für bessere Arbeitsbedingungen kämpfen. Als Anita sich in Giulias Verlobten Pietro verliebt und Giulia die beiden bei einem Kuss beobachtet, trennen sich ihre Wege: 1901 flüchtet die schwangere Giulia. Die 20-Jährige kratzt ihre Ersparnisse zusammen und schippert in ihrem besterhaltenen Kleid, unter dem sich bereits der Bauch wölbt, mit einem Drittklass-Ticket auf einem Überseedampfer nach New York.
Die Handlung setzt 1946 ein: Giulia kehrt nach 45 Jahren als wohlhabende Dame in ihr Heimatdorf zurück, das zwei Weltkriege und eine verheerende Überschwemmung überdauert hat. Sie fürchtet die Begegnung mit Anita und Pietro, fragt sich, was aus den beiden geworden ist, ob sie überhaupt noch leben.
Aus weiblicher Perspektive
Raffaella Romagnolo steuert ihre Geschichte über 500 Seiten auf diesen Moment der Wahrheit zu – in zahlreichen Rückblenden fächert sie die Schicksale von Giulias und Anitas Familien auf. Sie zeigt, was die beiden zerstörerischen Weltkriege besonders im Leben von Anitas Landarbeiterfamilie angerichtet haben. Der männliche Part der Familie wurde weitgehend ausgelöscht. Die Frauen mussten sich auch nach dem Krieg alleine durchschlagen, nachdem sich viele der Männer den Partisanen im Widerstand gegen die faschistischen Schwarzhemden angeschlossen hatten.
«Mein Anspruch war es, die Geschichte neu zu erzählen», sagte Raffaella Romagnolo kürzlich bei einer Lesung an den Solothurner Literaturtagen. «Als Dokumentaristin fehlte mir etwas: Die Sichtweise derer, die nicht als Akteure beteiligt waren. Was passierte zu Hause, während die Männer im Krieg waren?»
Als dritte starke Frauenfigur stellt die 48-jährige, im Piemont lebende Autorin die wohlhabende Marchesina Adelaide ins Zentrum. Sie war die Geliebte von Anitas Sohn und richtet viele Jahre später in den geheimen unterirdischen Kammern ihrer Villa ein Versteck für Vorräte und ein Lazarett für Partisanen ein. Auch der Buchtitel in der deutschen Übersetzung nimmt Bezug auf diesen dritten Teil des Romans: «Bella Ciao» war das Kampflied der Resistenza.
Wechselvolle Geschichte Italiens
So unterschiedlich das Leben für Giulia, Anita und Adelaide verläuft: Sie alle haben mit tragischen Verlusten zu kämpfen und lassen sich dennoch nicht vom Schicksal niederdrücken. Romagnolo, die mit ihrem Roman «La figlia sbagliata» für den Premio Strega nominiert war, überzeugt auch mit diesem Roman. In ihrer Familiensaga verwebt sie reale historische Ereignisse. Als Vorlage für das fiktive Dorf Borgo di Dentro diente ihr der Ort Ovada im Piemont, dessen wechselvolle Geschichte sie eingehend recherchiert hat. Ihr Roman liefert einen packenden Einblick in die Geschichte Italiens zwischen 1880 und 1946. Aber auch in das Leben der Exilitaliener in New York, die sich weit entfernt von der alten Heimat eine neue Existenz aufbauen wollten.
Lesung
Do, 13.6., 19.30
Literaturhaus Zürich
Buch
Raffaella Romagnolo
Bella Ciao
Aus dem Italienischen von Maja Pflug
528 Seiten
(Diogenes 2019)