In Sofia keimt ein Samen. Doch die «Tschinggin» ist zuversichtlich, dass ihr Kind akzentfrei sprechen und schweizerisch wie Vater Emil sein wird. Nie soll es unter Rassismus leiden müssen: «Es wird sich nicht fremd fühlen. Es wird hierher gehören. Ihr Kind wird das Wort ‹Saisons› mit den Jahreszeiten in Verbindung bringen, mit dem Wechsel zwischen Winter und Sommer. Nicht mit dem Aufenthaltsstatus in den Papieren.» Sofia ist eine von fünf Figuren, die in Bettina Scheiflingers Roman «Erbgut» über 100 Jahre hinweg aus ihrer Familienchronik berichten. Eine (Migrations-) Geschichte voller Hochs und Tiefs, die sich im Dreieck Italien-Schweiz-Österreich abspielt. Schnörkellos und mitunter schmerzlich intim sind die Einblicke in ihre Lebensrealitäten. Und voller Gegensätze: Elternschaft und Kindheitserinnerungen, Geburt und Tod, Heimat und Fremde, Liebe und Missbrauch. So wie auch Erben per se zweischneidig ist: Haus und Wohlstand: ja bitte, Trauma und Krebsrisiko: nein danke.
Nach und nach wächst ein Stammbaum
Stakkatoartig springt die Handlung in radikal kurzen Momentaufnahmen zwischen den Erzählperspektiven. Kapitel oder Zeitstempel sucht man vergeblich. Einzig die Namen der Berichtenden zu Beginn der Abschnitte bieten minimalen Halt. Neben Sofia, Rosa, Johanna und Arno sticht die Ich-Erzählerin heraus, um deren Eltern und Grosseltern nach und nach ein Stammbaum wächst.
NSDAP-Mitglieder und Gastarbeiter
Scheiflinger, aufgewachsen im sanktgallischen Wil, arbeitete lange als Lehrerin. Sie schrieb nebenher Kurzgeschichten, Hörspiele oder fürs Jugendtheater. So leidenschaftlich, dass die Idee wuchs, dies «richtig zu machen» und «Literarisches Schreiben» zu studieren. «Lesen, schreiben und darüber sprechen», fasst die 38-Jährige ihr Studium der Sprachkunst in Wien und zwischenzeitlich in Biel zusammen. Ihr Romandebüt «Erbgut» ist zugleich ihre Bachelorarbeit. Der positive Aussenblick ihrer Professorin spornte sie an, erzählt Scheiflinger per Video-Chat aus Wien: «Bleib dran, denk über diese Figur oder jene Fragestellung nach und mach weiter.» Mit leisen Worten breitet die Autorin ein Generationenporträt aus, das historische, soziologische und politische Strömungen realitätsnah wiedergibt. Etwa vom Grossvater, der als NSDAP-Mitglied in Kriegsgefangenschaft geriet, oder der Grossmutter, die als Tochter italienischer Gastarbeiter in der Schweiz aufwuchs. Auch dunkle Erinnerungen an Schwarzenbachs «Überfremdungsinitiative » von 1970 kommen bei der Lektüre hoch. Die Ich-Erzählerin pendelt im Hier und Jetzt zwischen Wien und der Schweiz, stösst bei ihren Eltern auf Schweigen, was die Vergangenheit anbelangt. Allmählich kreuzen, überschneiden und ergänzen sich die Einzelschicksale. Statt rabiat das Beil anzusetzen, streicht die Autorin sanft über die Rinde, bricht morsche Äste ab, pflückt hier eine Frucht, zupft da an einem Blatt.
Lesungen:
Mi, 26.10., 19.30, Wyborada St. Gallen (CH-Buchpremiere mit Melinda Nadj Abonji)
Do, 27.10., 19.30, Gare de Lion Wil SG
So, 30.10., 17.00, Betulius und Töchter Zürich (Zürich liest – Sofalesung)
www.bettinascheiflinger.com
Buch:
Bettina Scheiflinger
Erbgut
192 Seiten (Kremayr & Scheriau 2022)
Fünf Fragen an Bettina Scheiflinger: «Der Roman durfte organisch wachsen»
kulturtipp: Sie pendeln zwischen Österreich und der Schweiz. Zudem ist Scheiflinger ein österreichischer Name. Wie viel eigene Geschichte steckt im Roman?
Bettina Scheiflinger: Einiges – «Erbgut» zählt zur Autofiktion, wie sie eine meiner Lieblingsautorinnen Annie Ernaux prägte. Als Tochter eines Österreichers und Grossenkelin italienischer Gastarbeiter flossen viele Erinnerungen an Sprache, Kultur und Bräuche mit ein.
kulturtipp: Die Ich-Erzählerin im Buch tut sich schwer, Wurzeln zu schlagen. Fühlen Sie sich irgendwo richtig «zu Hause»?
Bettina Scheiflinger: In Wil leben Familie und Freunde. Trotzdem fühlt es sich oft wie stehenbleiben an, weil Verwurzelung auch einengend sein kann. Wien bietet unglaublich viel, mittlerweile habe ich dort ein soziales Leben aufgebaut. Ich hatte nie das Gefühl, irgendwo für immer zu bleiben. Zurzeit stimmt es so, die Bedingungen, Orte, Vorstellungen und Ziele dürfen sich aber ändern.
kulturtipp: Vor allem anfangs fordern die Zeit- und Perspektivensprünge in Ihrem Roman extrem. Wie kam es zu dieser speziellen Form?
Bettina Scheiflinger: Der Roman wurde nicht konstruiert, sondern durfte organisch wachsen. Am Ende verschob ich Fragmente, ergänzte und füllte Löcher. Statt die Schnipsel chronologisch zu ordnen, verknüpfte ich sie motivisch. Trotz meiner Angst, dass die Leser sich nicht zurechtfinden, entschieden wir bewusst, auf Kapitel mit Titeln, einen Stammbaum oder Zeitstempel zu verzichten.
kulrutipp: Hat sich Ihre Arbeitsweise durch den Verlag im Rücken verändert?
Bettina Scheiflinger: Das Wissen, einen Verlag zu haben, half zu sagen: «Nein, ich kann jetzt nicht Kaffeetrinken kommen, sondern muss arbeiten – also schreiben.» Auch eine Umstellung im Denken fand statt: Schreiben hat einen grösseren Stellenwert bekommen.
kulturtipp: Welcher Lesestoff packt Sie persönlich?
Bettina Scheiflinger: Ich bin extrem breit interessiert und dankbare Bibliotheken-Gängerin. Annie Ernaux hat mich in den letzten Jahren stark beschäftigt und geprägt. Sprachlich beeinflusste mich Ágota Kristóf. Auch «Der Freund» von Sigrid Nunez gehört zu meinen Highlights der letzten Jahre.
Zürich liest: Relevant & facettenreich
Werbung, Newsletter, Gratiszeitungen: Worthülsen überall. Lesenswertes aber gäbe es zuhauf, wie «Zürich liest» zeigt: An 220 Veranstaltungen präsentieren Autorinnen und Autoren aus dem Inund Ausland ihr Schaffen. So lesen etwa Tina Ackermann oder die Ukrainerin Eugenia Senik zum akuten Schwerpunkt «Krieg und Frieden». Neben Krimi-Profis wie Donna Leon oder der polarisierenden Alice Schwarzer bekommen auch nationale Erfolgsautoren wie Jonas Lüscher und Newcomerin Seraina Kobler eine Bühne. Belletristik-, Krimi- und Sachbuchfans kommen ebenso auf ihre Kosten wie Kinder und Jugendliche.
Zürich liest
Mi, 26.10.–So, 30.10. Zürich und Umgebung
www.zuerich-liest.ch