Die Geschichte der jungen Matilda lässt bis zum Schluss nicht los: Die Leser begleiten sie als kleines Mädchen, wo sie in einem Schweizer Dorf mit ihrem Vater Pascal aufwächst. Doch die tiefe Verbindung zwischen den beiden wird jäh auseinandergerissen, als ihr Papa an einem Herzinfarkt stirbt. Nach einer kurzen Zeit in einer Pflegefamilie wird Matilda von ihrer Mutter Lucía aus Mexiko abgeholt: Lucía hatte die Verantwortung für ihre Tochter bei deren Geburt nicht übernehmen wollen, sich nie mehr gemeldet. Nun ist sie verheiratet, Mutter eines Sohnes und bereit, ihre siebenjährige Tochter nach Mexiko-Stadt mitzunehmen.
Adoption bleibt schwulem Paar verwehrt
Dort bietet sie Matilda ein liebevolles Zuhause, doch über die Vergangenheit ihrer Tochter schweigt sie. Was es bedeutet, wenn die Wurzeln eines Menschen gekappt werden, ein Teil der Identität wegfällt, beschreibt Regula Portillo eindrücklich in ihrem zweiten Roman. Matilda lebt sich in Mexiko schnell ein, doch dass etwas fehlt, ist ihr dennoch schmerzlich bewusst. Der weitere Verlust eines geliebten Menschen und ihre Bindungsangst bringen sie als junge Frau schliesslich dazu, ihrer Vergangenheit auf die Spur zu gehen.
Reguala Portillo verknüpft diese Identitätssuche geschickt mit der Geschichte von Matildas homosexuellem Onkel Tobias und dessen Partner Michael. Die beiden hatten ein enges Verhältnis zu Matilda, bildeten zusammen mit Pascal ein eingeschworenes Team. Zur Erschütterung über Pascals Tod kommt der Schmerz, dass sie damit auch Matilda verlieren. Denn obwohl die beiden der Siebenjährigen ein fürsorgliches Zuhause bieten könnten, haben sie als schwules Paar kein Recht auf Adoption. «Als ob die sexuelle Orientierung einer Person in irgendeiner Form etwas darüber aussagen würde, ob diese eine gute Mutter oder ein guter Vater ist», wehrt sich Tobias.
Als Lucía ihre Tochter Matilda nach Mexiko mitnimmt und den Kontakt abbricht, fällt für die beiden eine Welt zusammen. Diese Erfahrung bringt das Paar dazu, für die Rechte von Homosexuellen in der Schweiz zu kämpfen.
Psychologische Tiefenschärfe
Portillo spannt den Bogen ihrer Geschichte von den 80er-Jahren bis 2009 und zeigt, wie sich die rechtliche Situation von Homosexuellen in der Schweiz verändert hat – obwohl selbst im Jahr 2020 noch immer Lücken bestehen. Mit «Andersland» gelingt ihr ein eindringlicher Roman, der mit ausgefeilter Figurenzeichnung und psychologischer Tiefenschärfe zu packen vermag – und ans Herz geht.
Die Autorin, die in Mexiko, Nicaragua und Deutschland gearbeitet hat, lebt heute mit ihrer Familie in Bern. Ihr Roman sei auch ein Versuch, stereotype Rollen- und Familienbilder zu widerlegen, sagt sie in der SRF-Sendung «Literaturfenster Schweiz». Mit einer Mutter, die sich zunächst der Verantwortung für ihr Kind entzieht, und einem alleinerziehenden Vater, der in den 80ern mit Vorurteilen kämpfen muss, entspricht Matildas Familie nicht den gängigen Vorstellungen. Wie Matilda ihren Weg findet, davon erzählt «Andersland».
Zum Nachhören
«Literaturfenster Schweiz» mit Regula Portillo
www.srf.ch/sendungen/literaturfensterschweiz
Buch
Regula Portillo
Andersland
272 Seiten
(Bücherlese 2020)