Polen, Juni 1980: Leuchtende Mohnblumen, der Duft von Linden und Flieder, Kiefernwälder unter einem grenzenlosen Himmel. Es ist eine farbenfrohe, prächtige Landschaft, in die der Leser in Tomasz Jedrowskis Debütroman «Im Wasser sind wir schwerelos» eintaucht. Unerwartet anders als das trübe literarische Bild, das oft mit der sozialistischen Tristesse assoziiert wird.
Gefangene eines rigiden Systems
Der Ich-Erzähler Ludwik lebt nach seiner Flucht vor dem sozialistischen System seines Heimatlandes in Brooklyn. In Rückblenden schildert er, wie er ein Jahr zuvor bei einem Ernteeinsatz Janusz kennenlernt. In der Abgeschiedenheit der Masuren im Norden Polens verbringen die beiden jungen Männer unbeschwerte Tage miteinander. Unbeobachtet leben sie ihre Leidenschaft aus, lieben sich im hohen Gras, baden in einem verborgenen See mitten im Wald. «Wir schwammen, furchtlos und frei und unsichtbar im herrlichen Dunkel», erinnert sich Ludwik an den sorglosen Sommer.
Doch schon bald sind die beiden Frischverliebten zurück in Warschau. Graue Wohnblocks und heruntergekommene Häuser mit Einschusslöchern sind nun die Kulisse ihrer aufblühenden Liebe. Ein offenes Leben als homosexuelles Paar ist tabu, sie leben in ständiger Angst, entdeckt zu werden. Trotz ihrer Zuneigung füreinander klaffen die Weltbilder der beiden Männer weit auseinander. Während sich Janusz für eine Karriere innerhalb des Systems bei der Zensurbehörde entscheidet, träumt Literaturstudent Ludwik von der Flucht in den Westen. Der 22-Jährige versinkt in Büchern, insbesondere «Giovannis Zimmer» von US-Autor James Baldwin berührt ihn zutiefst. Unter der Hand kauft er sich ein Exemplar des in Polen damals verbotenen Buchs. Das schwule Drama fesselt ihn: «Schon die ersten paar Seiten machten mir Angst und trösteten mich.» Immer wieder vergleicht Ludwik sich und seinen Liebhaber mit den tragischen Helden des Romans.
Bilder eines vielseitigen Polen
Auch Jedrowski nutzt Baldwins Klassiker über das seelische Leid unterdrückter gleichgeschlechtlicher Liebe als Blaupause für seine Geschichte. Einfühlsam entwickelt er einen Comingout-Roman, der zwar in den 1980ern verortet ist, aber eine zeitlose und universelle Liebesgeschichte von Verlangen und Verlust erzählt. Feinfühlig greift er dabei die Gefühle von Scham, Einsamkeit und Verlorensein auf, die vielen homosexuellen Menschen bekannt sind, macht aber auch ihre Stärke spürbar.
Zudem zeichnet Jedrowski, der als Sohn polnischer Eltern in Deutschland aufgewachsen ist und heute mit seinem Mann in Frankreich lebt, ein vielseitiges Bild Polens. Er zeigt die Schönheit des einstigen Ostblockstaates. In bildhafter Sprache beschreibt er die bezaubernden Landschaften, konterkariert die strenge Architektur des Sozialismus mit der üppigen Natur. Beiläufig streut er historische Fakten ein, anhand deren er die konfliktreiche Geschichte des Landes und die gesellschaftliche Spaltung veranschaulicht.
Diese Zerrissenheit ist auch heute noch präsent. Vor dem Hintergrund aktueller Entwicklungen in Polen, wo die Diskriminierung und Hetze gegenüber Homosexuellen zunimmt, leuchtet die aussergewöhnliche Liebesgeschichte umso mehr.
Buch
Tomasz Jedrowski
Im Wasser sind wir schwerelos
Aus dem Englischen von Brigitte Jakobeit
224 S. (Hoffmann und Campe 2021)