Eine leere Beziehung kann schmerzhafter sein als das Ende einer Liebe, schreibt die israelische Schriftstellerin Zeruya Shalev in ihrem neuen Roman «Schicksal»: «Auch ihre alltäglichen Gespräche in letzter Zeit sind ziemlich kaputt. Man kann es kaum noch Gespräch nennen, dieses Ausstossen von Sätzen in einem gemeinsamen Raum.»
Atara hatte ihren ersten Mann während einer wilden Affäre verlassen, um eine Beziehung mit dem selbstgefälligen Akademiker Alex einzugehen. Die beiden quälen sich in einem ehelichen Kleinkrieg – bis Alex unerwartet stirbt. Sein Tod trifft sie mehr, als sie sich und der Familie eingesteht. Denn nach aussen gibt sie die Unabhängige, die mit einer Palästinenserin ein erfolgreiches Architekturbüro führt.
Mehrere Jahrzehnte israelischer Geschichte
Shalev ist eine der wichtigen Schriftstellerinnen in Israel. Bislang hat sie in ihren Büchern manifest Politisches weitgehend ausgeklammert. Mit «Schicksal» hat sie nun jedoch ihren ersten Israel-Roman geschrieben. Sie spannt einen Bogen über Jahrzehnte der israelischen Geschichte: Von den 1930ern bis in die Gegenwart mit all ihren Enttäuschungen für viele.
Parallel zu dieser Beziehungsgeschichte lässt Zeruya Shalev ihre Protagonistin Atara in die Vergangenheit blicken. Sie sucht die alte Rachel auf – einst die grosse Liebe ihres Vater. Nach und nach stellt sich heraus, dass Rachel mit Lebenslügen zu kämpfen hat, die sie schwer belasten. Als gescheiterte Untergrundkämpferin weiss sie heute nicht mehr, wofür sie damals eigentlich einstand, als sie zusammen mit Arabern den antiimperialistischen Kampf gegen die britischen Besatzer führte: «Nicht so hatte sie sich den Staat vorgestellt, der am Ende des Kampfes auf den Leichen ihrer Kameraden und auf den Trümmern ihrer Vision entstehen würde.»
Rachel lebt in ihren alten Tagen in einer illegalen Siedlung, was ihr der eigene Sohn nun vorwirft, der den Palästinensern nahesteht. Zudem musste sie als Geliebte von Ataras Vaters auf ein erfülltes Liebesleben verzichten. Dieser hatte sie Knall auf Fall verlassen, ohne sich je wieder zu melden.
Zeruya Shalev lässt ihre beiden Protagonistinnen, die alte Rachel und die jüngere Atara, in der erlebten Rede zu Wort kommen: Rachel, wenn sie die 40er-Jahre aufleben lässt. Atara, wenn sie sich aus den Verstrickungen ihrer Beziehungen zu lösen versucht.
Ein komplexes Beziehungsgeflecht
Die moralische Schuld der beiden ist stets spürbar, auch wenn man ihnen mit Wohlwollen begegnet und sich gezwungen sieht, ihnen zu verzeihen. Denn Zeruya Shalev versteht es ausgezeichnet, die Nöte der beiden Frauen nachvollziehbar zu machen. Überzeugungstaten können sich als gemeine Verbrechen herausstellen, weil Schuld eine Frage historischer Umstände ist.
Zeruya Shalev hat mit «Schicksal» einen sehr persönlichen Roman geschrieben, der nahegeht. Mitunter ist das Beziehungsgeflecht allerdings verwirrend komplex. Auch setzt sie sehr viel geschichtlichen Hintergrund voraus, um die Geschehnisse im Einzelnen einzuordnen. Dennoch lohnt sich die Lektüre; sie vermittelt einen Eindruck in das moderne Israel mit seinen politischen Widersprüchen.
Zeruya Shalev
Schicksal
Aus dem Hebräischen von Anne Birkenhauer
413 Seiten
(Berlin Verlag 2021)