«Weisch no?» Diese Frage stellt der 65-jährige Ich-Erzähler Thomas seiner Frau ein paarmal: Gaby, seine grosse Liebe, mit der ihn schöne und schmerzhafte Erinnerungen verbinden – und die nun nach längerer Krankheit tot neben ihm im Bett liegt. «Eigentli hani erwartet, dass uf ein Schlag alles andersch wird, wänn’s e so wiit isch. Dass d’Ziit schtah bliibt. Dass d’Wält undergaht.»
Liebe trotz «Yogapinggel» und «Brätzelibueb»
Statt des erwarteten Zusammenbruchs nimmt er sich Zeit für den Abschied, indem er in direkter Anrede an seine Geliebte Erinnerungen Revue passieren lässt. All die kleinen und grossen Dinge, die ihr gemeinsames Leben ausgemacht haben: dass sie beide gerne Listen über alle möglichen Lebensbereiche und Lieblingsdinge geschrieben haben.
Gabys Affäre mit Remo, den Thomas als «Yogapinggel» und «Brätzelibueb» beschimpft – und dabei seine eigene, frühere Affäre fast vergisst. Oder dass sie sich gegenseitig immer «Kassettli» mit ihrer Lieblingsmusik geschenkt haben, auf denen sie sich auch erzählt haben, was sie bewegt. Zu jeder Lebenssituation fällt Thomas, Bassist in einer Rock- und Jazzband, meist auch ein Song ein, der damals gelaufen ist, «de Soundtrack vo oisem Läbe». Die klingende Liste – von Joni Mitchells «For the Roses» bis «Mischtchäfer» von Züri West – steht übrigens im Anhang des Buchs.
Gedanken über Trauer, Glaube, Himmel und Hölle
Dem Zürcher Autor Hansjörg Schertenleib gelingt es in seinem feinsinnigen Mundartroman, das Schwere mit dem Leichten zu verbinden. Sein Protagonist macht sich Gedanken über Trauer, über Glauben, Himmel, Hölle und die Seele, lässt aber immer wieder den Humor aufblitzen. Nicht zuletzt auch durch träfe Schweizer Ausdrücke, die Schertenleib genüsslich zelebriert. Etwa mit Gabys allerletzter Liste, auf der sie Ausdrücke fürs Sterben findet: «De Löffel abgeh, s’Holz-Pischi montiere, d’Huuf ueklappe.»
«Völlig denäbet. Gschmacklos», findet Thomas diese Liste. Denn nebst dem Humor darf auch die Wut ihren Platz haben in diesem herzzerreissenden Abschied. Wut darüber, dass seine Geliebte den Löffel abgegeben hat und ihn alleinlässt, aber auch über ihre Affäre mit Remo – und über ein Geständnis, das sie ihm auf einem letzten Kassettli hinterlässt und das zu Lebzeiten wohl zu einer Beziehungskrise geführt hätte.
Durch dieses Kassettli wird die Liebesgeschichte auch aus Gabys Perspektive beleuchtet. Denn letztlich ist «S’Wätter vo geschter» zwar ein Buch über den Tod, aber vor allem auch über die Liebe und über alles andere, was das Leben lebenswert macht.
Musikalische Lesung
Mit Mona Petri, Stefan Gubser, Hansjörg Schertenleib und Daniel Kampa
So, 26.1., 20.00 Kaufleuten Zürich
Buch
Hansjörg Schertenleib
S’Wätter vo geschter
176 Seiten
(Atlantis 2025)
Vier Fragen an Autor Hansjörg Schertenleib
kulturtipp: Sie schreiben Romane, Bühnenwerke, Kinderbücher, Gedichte, Krimis, eine Gespenstergeschichte – und nun einen Mundartroman. Reizen Sie literarische Experimente?
Hansjörg Schertenleib: Da ich seit über 40 Jahren freier Schriftsteller bin, besteht die Gefahr der Routine, der Wiederholung und der Langeweile. Langweile ich mich selbst am Schreibtisch, langweile ich damit automatisch meine treue Leserschaft. Dieser Gefahr entgehe ich, indem ich mich literarisch immer wieder aufs Glatteis wage und mich einem neuen Genre zuwende. Allerdings interessiert mich nicht das Experiment, sondern die literarische Vielfalt.
Ihnen gelingt es, ein schweres Thema mit Humor und Leichtigkeit rüberzubringen. Welche Herausforderungen gab es beim Schreiben über das Sterben und den Tod?
Ich durfte meine Sprachbilder nicht nur mit den Farben Schwarz und Grau «malen», musste Witz und auch Wut in den Text einarbeiten. Es war mir sehr wichtig, das Schwere leicht zu machen.
Wird es auch mal eine hochdeutsche Fassung geben, oder ist das bei diesem Buch mit seinen originellen Schweizer Ausdrücken nicht möglich?
Das wird ganz sicher nöd passiere.
Sie verwenden Ausdrücke wie «Proscht Nägeli!» oder «Läck Böbbi!», und im Roman gibts eine Liste mit Wörtern, die «en alte Bäppel» verwenden würde. Haben Sie selbst ein Flair für alte Schweizer Wörter?
Ich liebe Wörter und Wendungen, die aus der Mode sind, und sehe es auch als meine Aufgabe, diesen den Platz einzuräumen, den sie verdienen. Es wäre himmeltraurig, wenn der grosse Reichtum unserer Dialekte ärmer würde. Es ist kein Zufall, sind die Hauptfiguren meines Mundartromans um die 60 Jahre alt und verfügen über einen Sprachschatz, der vielen jüngeren Leuten heute leider abgeht.