Die Geschichte des kurdisch-türkischen Gastarbeiterpaars Yilmaz und von dessen vier Kindern fängt mit dem Ende an: Kaum in Rente, stirbt der 59-jährige Hüseyin in seiner neuerworbenen Istanbuler Eigentumswohnung, für die er «Sonntagsdienste, Feiertagsdienste, Überstunden übernommen hat», an einem Herzinfarkt. Und während seine Familie zur Beisetzung in die Türkei eilt, erinnert sie sich episodenhaft, was sie gemeinsam durchlitten hat. Erzählt wird der Roman aus sechs Perspektiven: der Eltern Hüseyin und Emine und der Kinder Sevda, Hakan, Peri und Ümit.
Die Eltern sind 1979 aus einem türkischen Bergdorf ins öde deutsche Rheinstadt ausgewandert, Vater Hüseyin schuftet Jahrzehnte in Fabriken. Die Kinder sind orientierungslos, allesamt sind sie nirgendwo richtig zugehörig.
Die Traumata der Eltern wirken auf die Kinder
Es sind Leben voller Verlust, Gewalt und unausgesprochener Schicksalsschläge; aber auch tiefer gegenseitiger Verbindungen, die sich trotz aller Verletzungen nicht ausradieren lassen. Soghaft schildert Aydemir, wie die Traumata der Eltern bis in die Gegenwart ihrer Kinder hineinwirken.
Schon mit ihrem ersten Roman «Ellbogen» hat die in Berlin lebende Autorin 2017 ein intensives Werk vorgelegt, in dem sie die Geschichte der 17-jährigen Hazal erzählte, die nach einem Gewaltausbruch von Berlin nach Istanbul flieht. «Dschinns» ist noch vielschichtiger als Aydemirs Debüt. Während ihre Protagonistin in «Ellbogen» vor allem wütend war, sind ihre Figuren nun nachdenklich und verwundbar. Weil sie den demütigenden Alltagsrassismus durch Polizei, Lehrer und Chefs aushalten müssen. Und weil Hüseyin und Emine die Lebenswelten ihrer Kinder nicht verstehen – und diese wiederum mit den konservativen Vorstellungen der Eltern hadern. Sevda etwa, die eine Zwangsehe eingehen musste und bei deren Anbahnung wie «ein saftiges Stück Lammrücken in der Fleischtheke» begutachtet wird; oder der noch minderjährige Ümit, der seine Homosexualität verstecken muss. Am Ende wird eine alte Wunde aufgerissen, die das Leid des Patriarchen Hüseyin und der aus Verzweiflung kühlen Emine verstehen lässt. Ein grosses Epos über Migration und die Suche nach Lebensantworten, das sich kaum aus der Hand legen lässt.
Buch
Fatma Aydemir
Dschinns
368 Seiten
(Hanser 2022)
4 Fragen an Fatma Aydemir
«Im Angesicht des Todes sind Menschen ehrlicher»
kulturtipp: In Ihrem Roman verweben Sie die Lebensläufe des Ehepaars Yilmaz und von dessen Kindern. Sie zeigen nach und nach, wie die Figuren zu dem wurden, was sie nun sind. Wie haben Sie die Geschichte konstruiert?
Fatma Aydemir: Ich hatte schon sehr früh das erste Kapitel geschrieben, in dem der Familienvater Hüseyin stirbt. Ich wusste lange gar nicht, wie die Geschichte weitergehen sollte, ob ich vielleicht Hüseyins Leben rückwärts erzählen muss, um herauszufinden, wer diese Figur ist. Dann hatte ich die Idee, stattdessen alle anderen Familienmitglieder von ihrem jeweiligen Leben erzählen zu lassen und von ihnen zu erfahren, wer Hüseyin war. Ich fand das sehr spannend, weil jede Figur anders auf ihn blickt und weil die Situation der Beerdigung natürlich schonungslos ist. Im Angesicht des Todes sind Menschen einfach ehrlicher.
Die Welten der Eltern und der Kinder sind unvereinbar. Warum dieses fehlende Verständnis füreinander?
Ich glaube, es herrscht immer eine Kluft zwischen den Generationen. Wenn dann auch noch eine Migration stattfand und der Bildungsstand zwischen Kindern und Eltern sehr unterschiedlich ist, gibt es umso mehr Themen, zu denen man Haltungen hat, die kaum vereinbar sind. Die Frage ist: Wie geht man damit um? In der Familie Yilmaz kommt es zu einer Art Versteckspiel, alle geben nur so viel von sich preis, dass ein Miteinander noch möglich ist. Ausser der ältesten Tochter Sevda. Sie bricht irgendwann den Kontakt zu ihren Eltern ab, weil sie deren Vorstellungen von einer «anständigen Frau» nicht mehr entsprechen möchte.
«Dschinns» ist ein fiktionales Werk. Gibt es dennoch eine Figur aus diesem Roman, welche Ihnen besonders nahesteht?
Ich würde sagen, am nächsten ist mir die Figur Peri – von ihrer Biografie her, aber auch ein bisschen vom Typ. Sie hat Ideale und hält an ihnen fest, aber sie begreift ihr Leben auch als eine ständige Suche. Sie verweigert sich einem dogmatischen Denken. Das haben wir gemeinsam.
Als Romanautorin und Journalistin beschäftigen Sie sich oft mit den Menschen an den Rändern einer Gesellschaft. Woher stammt dieses Interesse für marginalisierte Personen?
Wenn damit queere, arme und wegen ihrer Rasse stigmatisierte Menschen gemeint sind: In meiner Welt stehen sie nicht an den Rändern der Gesellschaft, sondern im Zentrum. Ich interessiere mich für Menschen, die versuchen, etwas zu verändern. Das sind selten jene, die von den gegenwärtigen Verhältnissen besonders profitieren.