«Immer zu nah. Immer zu weit weg.» In diese widersprüchliche Gefühlswelt einer Vater-Tochter-Beziehung taucht der Aargauer Autor Andreas Neeser in seinem neuen Roman ein. Für die Sprachlosigkeit zwischen der Dolmetscherin Mona und ihrem 83-jährigen Vater findet er klare Worte. «Immerhin bleibt die Liebe. Aber es ist ein Gemurkse, weil da immer die Angst mitliebt. Die Angst vor dem Verlust und die Angst vor der Ferne, was vielleicht gleich schlimm ist. Je grösser die Angst wird, desto stärker klammerst du. Du bevormundest, du vereinnahmst. Aus lauter Liebe», hält seine Protagonistin fest.
Gefangen in der eigenen Vergangenheit
Eine Annäherung zwischen den beiden findet statt, als Mona ihrem an Krebs erkrankten Vater Johannes vorschlägt, seine Lebensgeschichte auf Tonband zu sprechen. Sie will erfahren, was ihn zu diesem wortkargen Mann gemacht hat, der ihr in seinem Verhalten stets fremd geblieben ist und ihr doch so viel bedeutet. Aus den 47 Minuten, die der Vater tatsächlich ins Diktiergerät spricht, konstruiert sie sein entbehrungsreiches Leben.
In Armut aufgewachsen, musste Johannes schon als Kind auf dem Hof seines Onkels als Knecht schuften, von den Eltern erfährt er bloss Gleichgültigkeit. Dennoch beisst er sich durch, arbeitet hart. Er erkrankt an Tuberkulose, rappelt sich wieder auf, kämpft weiter um Anerkennung. Nach vielen Rückschlägen kann er sich im Handwerkerberuf profilieren, gründet eine Familie. Seine Herkunft und die innere Überzeugung, dass er ein besseres Leben gar nicht verdient hat, werden ihn jedoch zeitlebens begleiten. «Das ist nicht für unsereins», wird er auch später oft zu seiner Tochter Mona sagen. Diese jedoch ist überzeugt, dass ihr das Glück zusteht. Sie macht das Gymnasium und setzt sich später als Arabisch-Dolmetscherin für Flüchtlinge ein. Und auch ihre Tochter Noëlle, Johannes’ Enkelin, geht selbstbewusst ihren eigenen Weg. Noëlles Beziehung zu ihrem eigenen Vater Pierre, von dem Mona getrennt lebt, ist ebenfalls kompliziert: Er hat sich durch seine ausländerfeindlichen Ansichten von seiner Frau und seiner Tochter entfremdet.
Andreas Neeser verknüpft die verschiedenen Erzählstränge und Perspektiven gekonnt: Der Fokus liegt auf Johannes’ Leben, von dem die Leser aus Monas reflektierenden Monologen und aus auktorialer Perspektive erfahren. Ein weiterer Erzählstrang dreht sich um den syrischen Künstler Salim, mit dem Mona befreundet ist. Auch er ist, wie ihr Vater, ein Gefangener seiner Vergangenheit und der widri-gen Umstände. Der Romantitel «Wie wir gehen» steht so programmatisch für den Lebensweg, den die Menschen mehr oder weniger selbst wählen – denn das Erlebte schwingt im Hintergrund immer mit. Sich von der Vergangenheit loszusagen, die Schritte in die Freiheit zu wagen, gelingt nicht immer.
Andreas Neeser packt viel in seinen Roman, erweist sich aber einmal mehr als feinfühliger Poet. Mit starken Sprachbildern hat er bereits in seinen Lyrikbänden und Romanen überzeugt. Und mit ebenso sorgfältig komponierter Sprache erzählt er nun von drei Generationen und ihrem Weg zur Selbstbestimmung.
Radio
Andreas Neeser in der Sendung «52 beste Bücher»
Zum Nachhören: www.srf.ch/sendungen/52-beste-buecher/wie-wir-gehen-von-andreas-neeser
Buch
Andreas Neeser
Wie wir gehen
216 Seiten
(Haymon 2020)