«Das Baby ist tot. Wenige Sekunden haben genügt. Der Arzt hat versichert, dass es nicht leiden musste.» Schreckliches berichtet Leila Slimani zu Beginn ihres Romans. Präzis und knapp. Zwei Kinder sind gestorben: «Die Kleine war noch am Leben, als die Sanitäter kamen. Sie hatte sich gewehrt wie eine Wilde.» Die Täterin – das wird unmissverständlich klar – ist ihre Kinderfrau. Sie liegt im Koma. Ihr Versuch, sich selbst das Leben zu nehmen, misslang. Die Mutter hat einen Schrei ausgestossen, als sie zum Tatort kam, «aus tiefsten Tiefen, das Geheul einer Wölfin. Es hat die Mauern zum Erzittern gebracht …»
Hier möchte keiner weiterlesen. Zu grausam die Szenerie, zu schmerzlich die Geschichte. Jeder Satz brennt unter der Haut und ist wirkungsvoll gesetzt.
Blick in die französische Mittelschicht
An ein Weglegen der Lektüre ist dennoch nicht zu denken. Die Autorin versteht ihr Handwerk, hat die Leser fest im Griff und lässt sie nicht lange am Ort des Grauens verweilen. Sie wirft ihr Publikum zurück ins Leben vor der Tat. Als Beobachter kann es mitverfolgen, wie die schreckliche Tragödie ihren Lauf nahm.
Leila Slimani wurde 1981 im marokkanischen Rabat geboren, der Vater Bankier und die Mutter Ärztin. Mit 17 Jahren ging Slimani nach Paris, wo sie Medien und Politik studierte. Später fasste sie als Journalistin Fuss, veröffentlichte 2014 ihren Debütroman «Dans le jardin de l’ogre».
Die Idee zu ihrem zweiten Roman «Chanson douce» («Dann schlaf auch du») beruht auf einer wahren Begebenheit. 2012 erstach eine Kinderfrau in der New Yorker Upper West Side zwei Kinder und wollte sich danach selbst töten. Slimani, als Kind ebenfalls von Bediensteten umgeben, setzte diese Tragödie in ein Buch um, das ein psychologischer Thriller werden sollte.
Schauplatz Paris, 10. Arrondissement. Paul und Myriam gehören zur französischen Mittelschicht: guter Job, netter Verdienst, zwei hübsche Kinder. Parfait! – Doch Familie und Beruf unter einen Hut zu bringen, ist nicht einfach. Deshalb wird die 40-jährige Louise als Kinderfrau angestellt.
Trügerisches Bild einer Familienidylle
Louise entbindet die beruflich engagierte Anwältin Myriam und den weitreisenden Musikproduzenten Paul von den alltäglichen Pflichten. Sie ist zuverlässig, gewissenhaft und «erfüllt die Wunschträume der idealen Familie». Doch das Bild der perfekten Idylle trügt. Myriam und Paul verlieren ihre Unabhängigkeit, Louise übernimmt das Ruder. «Sie weiss alles. Sie hat sich so gründlich in ihrem Leben eingenistet, dass es jetzt unmöglich erscheint, sie daraus zu entfernen.» Kein guter Verlauf der Dinge, zumal Louise privat beachtliche Sorgen plagen, von denen niemand etwas weiss …
Mit kurzen, harten Sätzen taktet die Autorin dieses unheilvolle Drama, in welchem es am Schluss nur Verlierer gibt. Wo letztlich alle und doch keiner die Schuld trifft, weil niemand mehr weiss, wie er sich verhalten soll.
2016 erhielt die franko-marokkanische Schriftstellerin für diesen Roman den Prix Goncourt, den wichtigsten Literaturpreis Frankreichs. Eine verdiente Auszeichnung für einen hervorragenden Roman.
Buch
Leila Slimani
Dann schlaf auch du
224 Seiten
Aus dem Französischen von Amelie Thoma
(Luchterhand 2017)