Wer einen Jaguar fährt, ist dem Rest der Menschheit überlegen. Das glaubt zumindest der Architekt Alexander Steiner. Bis er alkoholisch benebelt eine Fussgängerin überfährt, die beim Unfall stirbt. Steiner muss einen Zeugen bestechen, um der Haftstrafe zu entkommen.
Das ist der Auftakt zum neuen Buch «Alex und Nelli» der Ostschweizer Schriftstellerin Andrea Gerster. Die ehemalige Journalistin hat bisher fünf Romane geschrieben, allesamt fiktive Schicksalsgeschichten, wie sie sich in der modernen Gesellschaft zutragen: «In jedem Leben kommt es einmal zu einem Absturz», sagt Gerster und spricht davon, was Krisen auslösen können wie in ihrem früheren Roman «Ganz oben».
Flexible Arbeitszeit innerhalb von Bürostunden
Gerster lebt im Thurgau, schreibt neben ihren Romanen Kinder- und Jugendbücher sowie Texte für Theater und Textcollagen für Kunstausstellungen. Sie ist eine genaue Beobachterin alltäglicher Begebenheiten, die sie als distanzierte Erzählerin der Leserschaft vermittelt, oft mit einer Prise Ironie wie auch in «Alex und Nelli».
Andrea Gerster schlägt zum Gespräch über ihre Arbeit den Besuch einer Sankt Galler Bras- serie beim Bahnhof vor, wo sich eben die Pendler zum Feierabendbier treffen. Bei einem Tee erzählt sie vom Schreiben und der Überwindung, die es sie manchmal koste, sich hinter einen Text zu setzen. Aber dann ist der Drang zu schreiben stärker, und sie macht sich mit Disziplin hinter die Arbeit. Die Autorin hält sich an Bürostunden, wenn auch mit flexibler Arbeitszeit und erzählt ihren Lesern von den Unbilden des Lebens, die jeden treffen können.
Im Fall des Jaguar-Besitzers sind die Konsequenzen des Autounfalls fatal. Der erfolgreiche Architekt mit viel Kohle spricht mehr und mehr dem Alkohol zu. Es kommt zur Trennung von seiner Lebenspartnerin Nelli Vetterli, die sich auf eine neue, wohlgeordnete Beziehung einlässt. Denn der exzentrische Alex war mit seinen Macken eine ziemliche Herausforderung. Die Liebschaft mit einem Langweiler könnte Entspannung bieten, glaubt sie. Hier hätte das Leben der Geschichte einen Punkt setzen können, und der Roman wäre banal. Tut das Leben aber nicht, in der Welt der Andrea Gerster.
Porträt eines Selbstbezogenen
Im neuen Roman beschreibt die Autorin in kurzen Kapiteln den Abstieg von Alexander, der sinnbildlich bald zu Alex und dann zu Ale wird – reduziert von Mal um Mal. Auf seinen Jaguar muss er verzichten, er macht sich aus dem Staub und endet in der Pennerszene von Berlin. «Ich wollte mir beim Schreiben vorstellen, wie es einem Menschen ergehen kann, der sehr selbstbezogen ist und sich absolut nicht in andere einfühlen kann», sagt Gerster. In Berlin schlägt er sich als Altflaschensammler durch und ist glücklich dabei. Gerster hat die einschlägige Szene während eines viermonatigen Stipendienaufenthalts in Berlin beobachtet.
An dieser Stelle nimmt die Geschichte abermals eine Wende: Nelli geht der verschwundene Alexander nicht aus dem Kopf, sie macht sich auf die Suche nach ihm und findet ihn tatsächlich. Wer nun auf ein Happy End hofft, kann richtig liegen oder nicht, denn der Fall ist komplizierter, als man denkt. Zumal der Antiheld Alex ein traumatisches Erlebnis aus seiner Kindheit mit sich schleppt.
Das tönt tragischer, als es ist: «Alex und Nelli» ist eine vergnügliche Lektüre. Das Buch besticht durch seine gewiefte Konstruktion, wobei die Autorin den Leser gerne auf eine falsche Fährte lockt.
Gleichzeitig mit diesem Roman ist das Jugendbuch «Oda ist weg» erschienen, das von einem pubertierenden Comiczeichner als Ich-Erzähler handelt, der am liebsten Nutella verdrückt, aber von seiner Schwester auf Diät gesetzt wird. Das Büchlein überzeugt durch seinen lakonischen Witz und vor allem Gersters Verständnis einer jugendlichen Welt; sie ist Mutter von fünf erwachsenen Kindern. «Aber ich habe erst Jugendbücher geschrieben, nachdem sie ausgezogen waren.»
Ein Kind hat auch in «Alex und Nelli» seinen Auftritt. Es tritt der selbstbewussten Nelli derart nahe, dass diese sich zu einem drastischen Schritt gezwungen sieht. Welchen genau, das sei hier nicht verraten, aber er wird jeden und jede bei der Lektüre amüsieren.
Bücher
Andrea Gerster
«Alex und Nelli»
180 Seiten
(Lenos 2017).
Andrea Gerster
«Oda ist weg»
52 Seiten
Ab 10 Jahren
(Da Bux 2017).