Hingebettet zwischen Pyrenäen und Atlantik, liegt das Baskenland als sprachlich-kulturelle Randregion im spanisch-französischen Grenzland. Landschaftlich ist es von rauer Schönheit, mit idyllischen Bergkäffern und stolzen Städten. Seine Bevölkerung freilich leidet unter einer bewegten Geschichte. Noch immer haftet dem Baskenland das Stigma jener Jahre an, als ETA-Terror und staatliche Gegenwehr das kulturelle, soziale und politische Leben torpedierten. Seit 2011 herrscht zwischen den Separatisten und dem spanischem Staat zwar Waffenstillstand, und vor knapp einem Jahr hat die ETA mit ihrer Entwaffnung begonnen; der Friede jedoch ist ein labiler, und die Erinnerungen an die Terrorjahre sind noch frisch.
Ein Leben geprägt von den ETA-Jahren
Fernando Aramburu ist 1959 in San Sebastián, dem baskischen Donostia, geboren. Obwohl er seit 1982 in Deutschland lebt, ist auch sein Leben von den ETA-Jahren geprägt. Nun legt er seinen neunten Roman «Patria» vor, in dem er diese Erinnerungen als ausladende Familiengeschichte erzählt. Doch «Patria» ist weit mehr als Vergangenheitsbewältigung – ein episches Geflecht aus Geschichte und Geschichten, das die oft vergessene Minderheitenkultur am westlichen Rand Europas auf die literarische Weltkarte bringt.
Von einem Tag auf den andern ausgegrenzt
An einem regnerischen Nachmittag wird Txato Entzun erschossen. Der Kleinunternehmer hatte sich geweigert, der ETA «Revolutionssteuer» zu zahlen. Der Mord kündigt sich Wochen zuvor in verleumderischen Wandmalereien an: «Txato Entzun, Peng Peng Bum.» Das kleine Dorf, wo zuvor alle friedlich zusammenlebten, wird zum Kampfgebiet und Txatos Familie von einem Tag auf den anderen geschnitten und ausgegrenzt. «Im Dorf, wo wir uns alle kennen, kannst du nicht mit einem Gezeichneten Umgang haben», sagt Joxian, Txatos langjähriger Freund. Und seine Frau Miren: «Am besten wäre es, wenn sie verschwänden.»
Txatos Witwe Bittori, seit Kindheit eng mit Miren befreundet, leidet unter dieser Hexenjagd. Sie flieht nach San Sebastián. Tochter Nerea studiert bereits in Saragossa, Sohn Xabier arbeitet seit Jahren als Arzt in Bilbao. «Sie waren zu Satelliten eines ermoderten Mannes geworden», fasst Fernando Aramburu das Schicksal seiner Portagonisten lakonisch zusammen.
In kurzen Kapiteln erzählt Aramburu von ihrem Leben vor und nach dem Attentat, wobei er kunstvoll mit zeitlichen und örtlichen Ebenen jongliert und unentwegt – manchmal mitten im Satz – die Perspektiven wechselt. Kontrapunktisch erscheinen Joxian und Miren, die mitsamt ihren drei Kindern bis zum fatalen Schuss fast zur Familie gehörten.
Doch eben: das Attentat. Es ist von Anfang bis Ende des 750-seitigen Romankolosses das novellenhafte Zentrum, welches das enge Beziehungsgeflecht der beiden Familien prägt – und zerstört. Es symbolisiert das Geschwür jenes Unabhängigkeitskampfes, der zum Krieg wird. «So viele Leute im Dorf sind von der Politik vergiftet», bringt es Studentin Nerea nach ihrer Rückkehr aus Saragossa auf den Punkt. «Hier gibt es nur Lügner und Feiglinge.»
Für die zweite dramatische Wendung des Romans sorgt Witwe Bittori, die an Krebs erkrankt und ins Dorf zurückkehrt. Sie hat einen Verdacht und beauftragt einen früheren Dorfgenossen: «Frag ihn, ob er es war, der geschossen hat. Ich muss es wissen, bald, ich habe nicht mehr lange zu leben.» Bittoris Rückkehr bringt das Dorf erneut in Aufruhr. Pfarrer Don Serapio höchstselbst macht ihr klar, sie sei unerwünscht.
Fernando Aramburu ist nicht der erste schreibende Baske, und das Los seines Volkes tauchte schon früher in Romanen, Stücken und Gedichten auf. Doch «Patria» setzt neue Massstäbe. Gerade weil der Roman archetypische Topoi wie Liebe und Tod, Verrat und Versöhnung zur Sprache bringt, wird ihm reihum das Label «Weltliteratur» zugestanden. In Spanien hat er die höchste literarische Auszeichnung, den Premio Nacional de Narrativa, erhalten.
Ein überzeugendes Werk
In diese Begeisterung gilt es einzustimmen, zumal «Patria» auch dramaturgisch und sprachlich überzeugt. Aramburu geht mit seinen Figuren gleichberechtigt um und zeichnet aus ihren Charakteren, Temperamenten und Ansichten ein lebendiges Wimmelbild, das er mit gehöriger (Selbst-)Ironie koloriert. Diese wird auch in der Sprache spürbar. Aramburu schreibt spanisch, durchsetzt seinen Text aber mit baskischen Wörtern und Wendungen, die in der Übersetzung belassen werden. Zudem schreibt er, wie den Leuten der Schnabel gewachsen ist. Und ihm selbst, denn auch zwischen den vielen direkten Reden liest sich «Patria» wie heimlich mitgelauscht.
Lesung
Mi, 18.4., 20.00
Kaufleuten Zürich
Buch
Fernando Aramburu
Patria
768 Seiten
Aus dem Spanischen von Willi Zurbrüggen
(Rowohlt 2018)