Für viele unerwartet sind die Nationalsozialisten an die Macht gekommen. In Berlin brennt der Reichstag, das wird der Errichtung ihrer Diktatur weiteren Schub verleihen. Die jungen Juden Monika und Klaus aber wollen inmitten überwältigender Gleichgültigkeit auf der einen, wachsender Bösartigkeit auf der anderen Seite nur eines: vergessen, was ihnen droht. Sie verkleiden sich als schwarze Pierrots und tanzen auf dem Münchner Rosenmontagsball, bis ihnen ein älterer Herr entgegentritt. Er erzählt vom frühen Tod seiner Frau, während er in diesem Ersten Weltkrieg damit beschäftigt war, «Menschen, die mir nichts getan hatten, zu töten ». Und er sieht noch Schlimmeres kommen: einen Zweiten Weltkrieg, «lang, grausam und blutig. Mögen die Götter euch und eure Liebe schützen».
Grete Weil schreibt diese Zeilen im Winter 1944/45 in Amsterdam. Die Befreiung von den deutschen Besatzern ist nah, doch noch immer schwebt sie in Lebensgefahr. In ihrem Versteck trotzt sie der Kälte und weckt schmerzhafte Erinnerungen. «Ich schreibe eine Liebesgeschichte, schreibe Edgars und meine Geschichte, die ich verfremdet und aus der Atmosphäre des Autobiografischen gehoben habe.» Ihrem Mann Edgar, ermordet 1941 im Konzentrationslager Mauthausen, ist der Roman auch gewidmet.
Die Gefahr kündigt sich nach und nach an
Erst jetzt, mehr als zwei Jahrzehnte nach dem Tod seiner Verfasserin, wird das Buch «Der Weg zur Grenze» erstmals publiziert, ergänzt um Nachworte zu Grete Weil und ihren Mitstreitern im Amsterdamer Widerstand. Die Romanheldin Monika Merton ist auf dem Weg an die österreichische Grenze. Sie will sich in Sicherheit bringen und trifft unterwegs einen jungen Mann, dem sie in einer Berghütte ihr Leben erzählt. In eindringlichen, manchmal beinahe märchenhaft idyllischen oder auch surrealen Szenen beschreibt sie das Paradies ihrer Kindheit, das erfüllt ist von der lange unerwiderten Liebe zu Klaus.
Intensive Szenen, deren üppiger Stil deutlich von der Sprachkraft des Expressionismus inspiriert ist, lassen eigenartig scharf konturierte Menschen lebendig werden. Bis sich im Alltag dieser Arglosen zuerst unmerklich, dann immer deutlicher die Gefahr ankündigt. Hass wird geweckt und hochgepeitscht, etwa an der Universität, an der Monika studiert. Viele schauen weg. Monika zieht sich zurück, beginnt eine Fotografenlehre, dann werden ihr und Klaus Stellen in einem Landschulheim angeboten. In Sicherheit sind sie nicht, sie wissen es. Eine zur stolzen Nazi-Grösse gewandelte ehemalige Freundin warnt sie. «Wir haben euch grosszügig Schonzeit gegeben», sagt sie. Und fügt vielsagend an: «Ich kenne so ein wenig die Pläne, die langsam reifen. Junge, Junge, sie sind nicht von schlechten Eltern.»
Revolutionärer Geist erwacht
Als Klaus verhaftet wird und alle guten Beziehungen ins Leere laufen, weiss Monika: Die Zeit des Wegschauens und Hilfesuchens ist vorbei, jetzt muss sie kämpfen. Der Gast in ihrer Hütte will mitkommen. Sie aber sagt: «Emigrant ohne Revolutionär zu sein, ist sinnlos. Du musst die Welt, die dich vertrieben hat, umstürzen wollen.»
Grete Weil
Der Weg zur Grenze
400 Seiten (C.H. Beck 2022)