Roman: Offene Geheimnisse
Anne Tylers Roman «Eine gemeinsame Sache» geht familiären Verflechtungen nach.
Inhalt
Kulturtipp 08/2022
Babina Cathomen
«French Braid» heisst der Roman der US-Autorin Anne Tyler passend, der nun auf Deutsch unter dem Titel «Eine gemeinsame Sache» erschienen ist. So eng verflochten wie ein «Französischer Zopf» ist denn auch die Familie Garrett, die Tyler bis in die feinsten Verästelungen von den 1950ern bis 2020 ausleuchtet. Oft herrscht Sprachlosigkeit zwischen Robin und Mercy und ihren drei Kindern Alice, Lily und David. Schon früh geht jeder seine ...
«French Braid» heisst der Roman der US-Autorin Anne Tyler passend, der nun auf Deutsch unter dem Titel «Eine gemeinsame Sache» erschienen ist. So eng verflochten wie ein «Französischer Zopf» ist denn auch die Familie Garrett, die Tyler bis in die feinsten Verästelungen von den 1950ern bis 2020 ausleuchtet. Oft herrscht Sprachlosigkeit zwischen Robin und Mercy und ihren drei Kindern Alice, Lily und David. Schon früh geht jeder seine eigenen Wege und pflegt seine Geheimnisse und Lebenslügen. Aber die Prägungen aus der Kindheit oder die einander zugefügten kleinen Verletzungen wirken nach. Und auch wenn es mit der Kommunikation hapert, kennen sie sich doch zu gut und wissen jede Geste des andern zu deuten. Oder wie es Davids Frau Greta einmal sagt: «Genau so funktioniert es in einer Familie. Man erweist sich gegenseitig kleine Gefälligkeiten – verbirgt die eine oder andere unangenehme Wahrheit, sieht über diese oder jene Selbsttäuschung hinweg. Kleine Freundlichkeiten.» Worauf David trocken ergänzt: «Und kleine Grausamkeiten.»
Die 80-jährige Pulitzer-Preis-Trägerin, die über 20 Romane veröffentlicht hat, zeichnet auch in diesem Buch meisterhaft ein Familiengefüge. Sie versteht es, das Unausgesprochene sichtbar zu machen, oder legt mit wenigen Strichen offen, wie es um eine Beziehung steht. So ist es in der Familie ein offenes Geheimnis, dass Mercy, die sich immer mehr für das Malen als für ihre Familie interessiert hat, Robin nach vielen Ehejahren verlassen hat und in ihrem Atelier lebt. Ausgesprochen wird diese Tatsache aber von niemandem. Vielmehr wird an einem der wenigen Familienfeste die Goldene Hochzeit einer Ehe zelebriert, die es gar nicht mehr gibt. Tyler zeigt aber auch, wie die nächste Generation sich aus dieser Sprachlosigkeit befreien und einen offeneren Umgang mit den eigenen Kindern und Enkeln pflegen kann. «Eine gemeinsame Sache» ist ein warmherziger Roman mit fein ausgearbeiteten Charakteren, der Fragen nach Zugehörigkeit und Gemeinschaft aufwirft.
Buch
Anne Tyler
Eine gemeinsame Sache
Aus dem Engl. von Michaela Grabinger
352 Seiten
(Kein & Aber 2022)