Es war wie im Paradies, damals, Anfang der 1980er im Sudan. Nadschwa lebte mit ihren Eltern und ihrem Bruder in begüterten Verhältnissen. Als moderne junge Frau besuchte sie die Universität in Khartum, traf sich in der Freizeit mit Freunden im «American Club» und verbrachte ihre Ferien in London oder Paris. «Wenn ich Jahre später zurückschaute und mich an Zeichen verborgener Anspannung hinter der Fassade der Heiterkeit zu erinnern versuchte, denk ich an das ständige Ringen, das ich einfach hinnahm. Der Geruch nach Staub und Kloake rang mit dem Duft des Jasmins und der Guaven, und keiner war stärker.»
«… und wir stürzten in die Tiefe»
1985 findet dieses Leben abrupt ein Ende. Über Nacht wird der amtierende Staatspräsident Dschafar an Numairi bei einem Militärputsch abgesetzt. Nadschwas Vater «Baba», Teil der korrupten Elite, wird verhaftet. Die Familie flieht nach London. Als «Baba» im fernen Sudan zum Tode verurteilt wird, «klaffte die Erde, auf der wir standen, auseinander, und wir stürzten in die Tiefe».
Da die finanziellen Mittel plötzlich beschränkt sind, die Mutter krank und der Bruder straffällig wird, boxt sich Nadschwa bald alleine durch. Sie ringt mit dem Verlust ihrer Familie, ihrer Freunde und der Heimat. Auch in ihrem Job als Kindermädchen erhält sie nur wenig Akzeptanz.
Die sudanesisch-ägyptische Autorin Leila Aboulela erzählt die Geschichte der Migrantin Nadschwa sehr differenziert und einfühlsam. Ungeschönt veranschaulicht sie deren sozialen Abstieg, die gesellschaftliche Benachteiligung, aber auch die ethnischen und kulturellen Unterschiede Nordafrikas. Die Ge-schichte von Nadschwa spiegle auch ihr Leben, sagt Aboulela im Interview auf der Internetplattform Qantara.de. 1964 in Kairo geboren, ist sie im Sudan aufgewachsen. Ihre Eltern waren Muslime, Araber und Afrikaner. Während ihrer Kindheit sei sie von einer Kultur beeinflusst worden, die sich im permanenten Wettstreit zwischen dem Arabischen und dem Afrikanischen befand.
Leila Aboulela lebt seit 30 Jahren mit ihrem sudanesisch-britischen Mann in Schottland und hat bereits fünf Romane sowie zahlreiche Erzählungen geschrieben. Darin rückt sie stets muslimische Frauen ins Zentrum, die im westlichen Kulturraum mit ihrer Identität, mit Fremdsein und Entfremdung zu ringen haben.
Vielschichtige Betrachtungsweise
Auch in «Minarett» gibt sie einen tiefen Einblick in das Denken und Fühlen einer Frau, die sich in der Fremde einen Weg zu einem selbstbestimmten Leben suchen muss. Dass Nadschwa ihre neue Heimat im Glauben in einer muslimischen Gemeinschaft in London findet, hat der Autorin in der deutschen Presse auch verhalten kritische Stimmen beschert. Wer im Roman allerdings nur die Verherrlichung des Glaubens sieht, wird der Autorin und ihrer vielschichtigen Betrachtungsweise von Nadschwas Weg nicht gerecht.
«Minarett» wurde 2005 in England veröffentlicht. Erst jetzt wurde das Werk von Irma Wehrli ins Deutsche übersetzt. Höchste Zeit. Denn der Roman hat nichts an Aktualität eingebüsst. Im Gegenteil.
Leila Aboulela
Minarett
Aus dem Englischen
von Irma Wehrli
340 Seiten
(Lenos 2020)