Die Schriftstellerin Sara Sligar, die in Los Angeles kreatives Schreiben lehrt, weiss, wie man Spannung aufbaut. Mit geschickt eingestreuten Andeutungen macht sie in den ersten Kapiteln neugierig auf das Schicksal der beiden Frauen, die in ihrem Roman im Mittelpunkt stehen: die junge Archivarin Kate, die im Sommer 2017 aus New York an die Küste Kaliforniens reist, um das künstlerische Erbe der berühmten Fotografin Miranda Brand zu archivieren. Schnell wird klar: Sowohl die psychisch labile Kate als auch die unter ungeklärten Umständen verstorbene Künstlerin Miranda haben einige Leerstellen in ihrem Lebenslauf. Und auch Mirandas anfangs ruppiger Sohn Theo, der Kate angeheuert hat, scheint Geheimnisse zu verbergen.
Parallelen zwischen den Frauen werden sichtbar
Gekonnt blendet Sara Sligar zwischen den zwei Erzähl- und Zeitebenen hin und her. Von Mirandas Künstlerinnen-Dasein erfährt die Leserin aus Tagebucheinträgen, Briefen und anderen Unterlagen aus den 1980-Jahren bis zum Tod der Fotografin 1993. In diesen riesigen und chaotischen Aktenberg vertieft sich die Archivarin Kate in Mirandas ehemaligem Haus, wo nun Theo mit seinen beiden Kindern den Sommer verbringt. Als Kate in Mirandas Tagebuch von deren gewalttätigem Mann Jake liest, fragt sie sich je länger, je mehr, ob Miranda tatsächlich Suizid begangen hat. Die Künstlerin litt zwar an einer postnatalen Depression und musste sich in der Psychiatrie behandeln lassen, dennoch zweifelt Kate an der Suizid-Geschichte, die damals durch die Medien ging. Und dass es zwischen Kate und dem mysteriösen Theo erotisch knistert, macht die Suche in der Vergangenheit nicht einfacher …
Nach und nach erschliesst sich auch, was Kates eigenes Leben aus den Fugen gebracht hat und warum die ehemalige Journalistin Hals über Kopf nach Kalifornien gezogen ist. Wie Miranda ist sie in New York Opfer männlicher Gewalt geworden. Die Parallelen zwischen den Frauen, beide intelligent, leidenschaftlich und ehrgeizig, werden im Verlauf der Geschichte immer deutlicher, wie Kate am Schluss selbst feststellt: Die Archivarin hat das Gefühl, dass sie «Miranda besser kannte als alle Menschen vor ihr, weil sie sich Miranda hatte vorstellen, alle Lücken selbst hatte füllen müssen. Das hatte eine unbändige Nähe zwischen ihnen geschaffen, eine gemeinsame Identität.»
Künstlerinnenroman und feministischer Thriller
In bildreicher Sprache hat die US-amerikanische Schriftstellerin ein Werk geschaffen, das zwischen Künstlerinnenroman und feministischem Thriller changiert. Sie spricht Themen an, die mit der #MeToo-Bewegung auf den Tisch kamen: ungleiche Machtverhältnisse, sexueller Missbrauch, aber auch den aufreibenden, manchmal unmöglichen Spagat zwischen einem erfüllten Künstlerinnenleben und dem Muttersein. Ein lesenswertes und intensives Debüt!
Buch
Sara Sligar
Alles, was zu ihr gehört
432 Seiten
(Hanserblau 2020)