Ab Mitte Juni werden die Fussgänger in Aarau dazu eingeladen, die Stadt im Rückwärtsgang zu entdecken. Möglich macht dies das Festival Cirqu’ Aarau, das aktuelle Zirkus-Produktionen aus aller Welt präsentiert. «Mit dem belgischen Künstler Johannes Bellinkx legen wir eine knapp einstündige Route aus, auf der wir Hindernisse oder Gefahren aus dem Weg räumen», erklärt Roman Müller und strahlt. Er ist begeistert von der Aktion mit dem Titel «Reverse». Ein schönes Beispiel für aktuelle Zirkusformen, erklärt er, denn: «Es ist eine physische Aktion, die aus sich selbst etwas zu erzählen beginnt.»
Müller hat als Teenager im Freiamt das Diabolospiel entdeckt und später die Dimitri-Schule in Verscio absolviert. Er tourte mit dem Zirkus Monti und gründete 2002 die Compagnie Tr’espace, mit der er international Erfolge feierte bis ans Zirkusfestival von Monte Carlo. Bei einem Gastspiel in Aarau 2013 verliebte er sich in die dortige Reithalle. «Ich hatte zuvor nie an ein eigenes Festival gedacht», erinnert er sich, «aber diese Halle inspirierte mich sofort.» So entstand das Festival Cirqu’Aarau, das Müller bis heute mit besonderem Credo leitet: «Ich nehme mir viel Zeit, meine Visionen zu klären. Dossiers schreibe ich nicht nur, um Geld zu generieren. Sie sollen mir, dem Team und den Geldgebern Klarheit über das Projekt verschaffen.»
Kurz vor der achten Austragung ist Müller nervös. «Wegen Corona ist alles anders», sagt er und erzählt vom letzten Sommer, als er mit seinem Team alles Geplante über den Haufen warf. «Wenn ich mich für etwas zuerst motivieren muss, ist das ein Alarmzeichen. Ich verfolge nur Ideen, die mich faszinieren.» Im Sommer stand die Auflage im Raum, Publikumsansammlungen zu umgehen. «So kamen wir auf die Idee von Performances, die sich über viele Stunden oder gar einen Tag im öffentlichen Raum hinziehen.» Mit solchen Aktionen bespielt Cirqu’Aarau nun Plätze, Strassen und das Aare-Ufer.
Müller selbst tritt am Festival nie auf. Tr’espace existiert zwar noch, spielt aber nur in besonderem Rahmen. «Als Künstler ging ich mit selbst gewählten Scheuklappen durch die Welt», sagt er. «Als Veranstalter muss ich offen sein und alles aufsaugen.» Beides gleichzeitig gehe nicht, wobei er in seiner neuen Rolle völlig aufgeht. «Die Festivalprogramme entstehen ähnlich wie künstlerische Projekte: Ich sammle Ideen wie Bausteine, aus denen ich Schritt für Schritt etwas Grosses baue.» Corona habe er auch als Chance erlebt: «Ich spürte eine neue Art von Narrenfreiheit, die Türen öffnete und Kooperationen ermöglichte.» In vielen Gesprächen sei ihm auf erfreuliche Art klar geworden, dass Scheitern wieder zur Option geworden ist. «Eine durch und durch zirzensische Haltung.»
Cirqu’Aarau
Do, 10.6–So, 20.6. Diverse Orte Aarau
Ausstellung Cirqu’: Bis So, 4.7., Stadtmuseum Aarau
www.cirquaarau.ch
Roman Müllers Kulturtipps
Buch
Paul Auster: Mr. Vertigo
(Rowohlt 1996)
«Austers Roman erzählt eine zeitlos aktuelle, verschrobene Geschichte. Ich empfehle die Lektüre auf Englisch, denn die Sprache ist herrlich.»
Festival
Total cod.act Festival
«Dieses Festival in La Chaux- de-Fonds zeigt Ende September Klanginstallationen und Performances, die in ihrer Bewegung für mich auch was Zirzensisches haben.»
www.codact.ch
Performance
L’Absolu
«Boris Gibés atemberaubendes Stück spielt in einem hohen Silo. Bei uns in Aarau ist es leider ausverkauft. Im Juli aber gastiert es im Theatre Vidy Lausanne und im Nebia Biel.»
www.vidy.ch / www.nebia.ch