Irgendetwas liegt in der Luft. Der Himmel über Heilbronn sirrt vor Hitze an diesem Wochenende Ende Juni. Die Leute schwitzen, klagen, trinken. Doch da ist noch was anderes als die Hitze. Kemal Arslan spürt es, als er am späten Donnerstagabend durch die Stadt läuft, kann es aber nicht einordnen. Er ist erst seit kurzem wieder in seiner Heimatstadt. Nach steiler, aber abrupt beendeter Karriere als Profifussballer in der Türkei ist er dorthin zurückgekehrt, wo er geboren wurde, aber noch immer als Ausländer gilt.
Hawaii liegt in Heilbronn
Auch Autor Acar ist als Türke zweiter Generation in Heilbronn geboren. Er spielt Fussball, allerdings als Amateur. Der heute 34-Jährige ist studierter Jurist, arbeitet als Journalist und hat je ein Sachbuch über Hip-Hop und Fussball geschrieben. Mit seinem ersten Roman «Hawaii» rüttelt er nicht nur das deutsche Feuilleton auf. Acar taucht als Gesprächspartner in Illustrierten und TV-Talks auf, denn sein Roman könnte brisanter kaum sein.
Im sommerlich erhitzten Heilbronn lässt Acar einen lange schwelenden Konflikt zum blutigen Kleinkrieg ausarten. Aneinander geraten eine Bürgerwehr und eine Migrantengang. Wobei sowohl die besorgten Bürger der Gruppierung «Heilbronn, wach auf!» als auch die Kankas-Rocker auf angeheuerte Söldner zurückgreifen. Es kommt zu Massenschlägereien in der zunehmend demolierten Innenstadt. Mittendrin Kemal, der zwar etwas gespürt hat, es in der apolitischen Nonchalance eines 20-Jährigen aber nicht einzuordnen wusste.
Zudem hat Kemal eigentlich ganz andere Sorgen. Sein Geld, das er als Fussballer gescheffelt hat, geht zur Neige. «Was willst du machen?», fragt ihn sein Vater. Darauf Kemal: «Mir wird schon was einfallen.» So wie sein Kumpel Emre aber will er nicht enden. «Ich hab einen Job», sagt dieser, «ich hab 100 Jobs. Jeden Tag einen anderen.» Denn Kemal hat sehr wohl Pläne. Er will seine Ex-Freundin Sina zurückerobern und mit ihr irgendwo ein neues Leben beginnen.
Natürlich kommt es anders: «Ich flieg überall raus. Überall. Egal, wohin ich geh, früher oder später flieg ich raus.» Ob das an seinem Anderssein liegt, fragt er sich. Denn in Heilbronn gehören Türken nach Hawaii. So heisst jenes Quartier bei den Industriebauten von Knorr und Audi, wo die Arbeiter wohnen, die Gescheiterten, die Randständigen. Das Hawaii-Viertel, das dem Roman den Titel gab, existiert wirklich wie so vieles in Cihan Acars Roman. Authentizität war dem Autor wichtig beim Schreiben.
Zerrissenheit und Kampf der Kulturen
Und darin liegt auch seine Stärke: Aus wenigen Worten schafft er Atmosphäre, treffende Dialoge und kraftvolle Bilder. «Egal, wo du in Heilbronn stehst, du siehst immer das Kraftwerk, einen Weinberg oder jemanden in der Audi-Latzhose», skizziert er seine Stadt. Auch seine zweite Heimat passt in einen Satz: «Ich lieb die Türkei über alles, aber ich könnte es dort keine drei Monate aushalten.» Die Zerrissenheit des jungen Secondo wird in «Hawaii» genauso stimmig beschrieben wie der alltägliche Kampf der Kulturen. Kemal sehnt sich nach Zugehörigkeit, die er nirgends findet. Ganz ohne Perspektive bleibt er aber nicht.
Buch
Cihan Acar
Hawaii
255 Seiten
(Hanser Berlin 2020)