Von der ersten Seite an ist die Leserin mittendrin im Armenviertel am Rande einer nordindischen Stadt: Im alles verschluckenden, beissenden Smog, im Gewusel und Lärm der Menschen und Tiere, im Geruchsgemisch von Dal-Gerichten und der nahen Müllkippe. In diesem Viertel, im «Basti», lebt der neunjährige Jai mit seiner älteren Schwester Runu-Didi und seinen Eltern, die mehr schlecht als recht über die Runden kommen. Das Hungergefühl und die Angst, dass das illegale Viertel bald von Bulldozern plattgewalzt wird, sind seine ständigen Begleiter. Aber er kann in die Schule gehen, und die Familie besitzt gar einen Fernseher, auf dem sich Jai am liebsten Polizei-Dokus anschaut.
Ein ungleiches Trio macht sich auf Spurensuche
Und als sein Schulkollege Bahadur spurlos verschwindet, ist für ihn klar, dass er sich zusammen mit seinen beiden Freunden Pari und Faiz als Detektiv betätigen will: als Chef der Bande, versteht sich. Die clevere Pari ist ihm mit ihren gescheiten Fragen zu seinem Leidwesen allerdings immer einen Schritt voraus. Und auch Faiz, der nebst der Schule noch arbeiten muss, lässt sich nicht einfach als Assistent einspannen. Die drei Kinder wagen sich bei ihrer Suche nach dem verschwundenen Schulkameraden weit vor – über die Grenzen ihres «Bhoot-Basars» hinaus. Und aus dem Spiel wird bald bitterer Ernst: Denn immer mehr Kinder verschwinden, und bei den Bewohnern des «Basti» bricht Panik aus. Wer entführt ihre Kinder – und zu welchen Zwecken? Auf die Hilfe der korrupten Polizei, die meist sowieso keinen Fuss in ihr Viertel setzt, können sie nicht zählen. Und so werden Sündenböcke gesucht, es kommt zu Ausschreitungen zwischen Hindus und Muslimen. Mittendrin die drei mutigen «Detektive» Jai, Pari und Faiz, der als Muslim nun doppelt gefährlich lebt.
Deepa Anappara wurde im südindischen Kerala geboren, hat in Delhi und Mumbay als Journalistin gearbeitet und lebt heute in Grossbritannien. Die Autorin erzählt diese packende Geschichte grösstenteils aus der Sicht des neunjährigen Jai. Damit gelingt es ihr, schweren Themen auch mit Leichtfüssigkeit und Humor zu begegnen. Durch den kindlich-naiven Blick deckt sie die himmelschreienden Ungerechtigkeiten auf: die Kluft zwischen Arm und Reich, Korruption, Kinderarbeit, der Konflikt zwischen Hindus und Muslimen oder die Stellung der Frau, die stets mit männlichen Übergriffen rechnen muss und in ihrer festgefahrenen Rolle praktisch keine Aufstiegschancen hat.
In Indien verschwinden täglich verarmte Kinder
Der Roman wurde mehrfach ausgezeichnet und in mittlerweile 19 Sprachen übersetzt. Die Schriftstellerin erzählt lebendig und empathisch vom Leben im «Basti», wirft die Leser in diese Welt voller intensiver Gerüche, Geräusche und Gefühle. Ihre Sprache ist gespickt mit indischen Ausdrücken, die in einem Glossar erklärt werden. Der Roman beruht auf wahren Fällen: In indischen Städten verschwinden täglich verarmte Kinder, ohne je wieder aufzutauchen. Mit ihrer Geschichte gibt Deepa Anappara den Vergessenen eine Stimme.
Buch
Deepa Anappara
Die Detektive vom Bhoot-Basar
Aus dem Englischen von pociao und Roberto de Hollanda
400 Seiten
(Rowohlt 2020)