Wer hat sich früher nicht von den Abenteuern des Lausbuben Huckleberry Finn und des entflohenen Sklaven Jim mitreissen lassen und ist mit ihnen in der Fantasie auf ihrem Floss den Mississippi hinuntergeschippert? Mark Twains Roman «Huckleberry Finns Abenteuer» von 1885 und die Verfilmungen haben Generationen von Kindern in Bann gezogen und mit der Kritik an Sklaverei und Rassismus ebenso Erwachsene angesprochen.
Twains Humor und Menschlichkeit erwähnt auch der afroamerikanische Autor Percival Everett in seiner Danksagung im neuen Buch. Nikolaus Stingl, der «James» ins Deutsche übersetzt hat, erinnert sich ebenfalls an die Lausbubengeschichte, die er als Zehnjähriger verschlungen hat. Beim nochmaligen Lesen hat er Twains Roman nun allerdings als harmlos empfunden: «Die Schattenseiten der Südstaatengesellschaft werden zwar nicht unter den Teppich gekehrt, bleiben aber eher unterbelichtet. Mark Twain war trotz allem ein Kind seiner Zeit – die schwarzen Menschen stellt er in seinem Buch unbedarft und kindlich dar.»
Alles ohne moralischen Zeigefinger
Die bissigere und erfrischend satirische Gesellschaftskritik liefert nun der 1956 in Georgia geborene Everett mit seinem fulminanten Roman, in dem er es mit raffinierten Kunstgriffen schafft, der weissen Gesellschaft den Spiegel ohne moralischen Zeigefinger vorzuhalten. Er dreht kurzerhand die Perspektive um und erzählt die Geschichte aus Sicht des Sklaven, der ganz und gar nicht dümmlich und abergläubisch ist wie im Original.
Jim, der für sich den Namen James wählt, hat sich selbst Lesen beigebracht und liest heimlich die Bücher aus der Bibliothek von Richter Thatcher. Er kennt sich mit Philosophen wie Voltaire aus und drückt sich genauso gewählt aus – allerdings nur, wenn er mit Schwarzen redet. Sobald ein Weisser in der Nähe ist, bedient er sich der «Sklavensprache». «Die Weissen erwarten, dass wir auf eine bestimmte Weise klingen, und es kann nur nützlich sein, sie nicht zu enttäuschen.
Wenn sie sich unterlegen fühlen, haben nur wir darunter zu leiden», erklärt er den Sklavenkindern. Das ergibt in all der Tragik eine grosse Komik, etwa wenn die Kinder üben, was sie bei einem Fettbrand in der Küche rufen sollen: Auf keinen Fall sollen sie die weisse Madam darauf hinweisen, dass Wasser den Brand verschlimmert. Sondern: «Hermmhimmel, Ma’am, so’ich vlleicht ne Schaufel Sand ranschaffm?» Dazu so stark wie möglich nuscheln, denn: «Sie geniessen es, euch zu verbessern und zu glauben, dass ihr dumm seid.»
«Das schwarze Idiom ist eine Sprachmaskerade»
Während Mark Twain den Sklaven in seinem Roman eine naive Ausdrucksweise im Südstaaten-Slang in den Mund legte, dreht Everett den Spiess um. «Ein genialer Einfall», findet Übersetzer Stingl: «Das schwarze Idiom ist bei Everett eine Sprachmaskerade, welche die Sklaven betreiben, um sich zu tarnen und zu überleben. Damit macht er auch den Überlegenheitsanspruch der Weissen lächerlich.»
Für Stingl waren die unterschiedlichen Ausdrucksweisen eine besondere Herausforderung. «Die ‹Sklavensprache› muss sich deutlich gegenüber der Hochsprache abgrenzen, darum habe ich einen eigenen Kunstdialekt entwickelt, der bis an die Grenze zur Unverständlichkeit geht.» So hat er die Grammatik vereinfacht, sprachliche Verschleifungen benutzt («Eima habbich dafür gebetet …»), Hilfsverben reduziert oder falsche Relativpronomen benutzt, die sich an gesprochener Umgangssprache orientieren. «Dialekte stehen ja immer im Verdacht, dass sie für schlichtere Gemüter sind, dabei kann man sich damit genauso differenziert wie in der Hochsprache ausdrücken», sagt der süddeutsche Übersetzer.
Das Spiel mit Identitäten auf die Spitze getrieben
Percival Everett ist als Professor für englische Literatur in Los Angeles tätig und wurde für seine über 20 Romane vielfach ausgezeichnet. «Mich fasziniert vor allem, wie vielfältig der Autor ist», sagt Nikolaus Stingl, der bereits vier von Everetts Werken übersetzt hat. «Jedes seiner Bücher ist vollkommen unterschiedlich in der Machart, und in jedem Genre zeigt er sich als virtuoser Schreiber.»
Im neusten Roman treibt Everett das Spiel mit den Identitäten satirisch auf die Spitze und gibt auch der erbittert geführten Debatte um kulturelle Aneignung einen anderen Dreh. Etwa wenn James als talentierter Sänger bei den historisch verbürgten Virginia Minstrels mitmachen muss, die sich für ihre Show die Gesichter schwarz anmalen und sich über Schwarze mokieren.
Das führt zu dieser absurden Situation: «Zehn auf schwarz geschminkte Weisse, ein Schwarzer, der als weiss durchging und schwarz geschminkt war, und ich, ein hellhäutiger Schwarzer, dergestalt schwarz geschminkt, dass ich wie ein Weisser wirkte, der als schwarz durchzugehen versucht.» Die Ironie und die spannende Abenteuergeschichte, die Everett im Geiste von Twain ausschmückt, geben dem Roman eine gewisse Leichtigkeit.
Sie täuschen aber nie über den leidvollen Hintergrund hinweg, den der Autor in Szenen von Demütigung und Gewalt gegenüber den rechtlosen Sklaven aufgreift. Denn schnell wird klar: Während Huck das Abenteuer auf dem Mississippi meist mit kindlicher Unschuld geniessen kann, ist es für den entlaufenen Sklaven James, der seine Frau und seine Tochter vorerst zurücklassen muss, ein Kampf um Würde und Freiheit – und ein Ringen um Leben und Tod.
Buch
Percival Everett
James
336 Seiten
Aus dem Englischen von Nikolaus Stingl
(Hanser 2024)