Sie war eine Frau, die nicht «mein Mann», sondern «mein Gatte» sagte. Sie versuchte, ihre Herkunft zu verstecken, indem sie «Ausdrücke fallen liess, die sie irgendwo gelesen oder sich bei der ‹besseren Gesellschaft› abgehört hatte. Zögern, sogar Erröten, weil sie Angst hatte, sie falsch zu gebrauchen, Gelächter meines Vaters, der sich über ihre ‹geschwollene Sprache› lustig machte». So porträtiert die französische Schriftstellerin Annie Ernaux in ihrem Buch «Eine Frau» ihre verstorbene Mutter.
Die einzig bedeutende Frau in Ernaux’ Leben
Deren Geschichte erzählt sie liebevoll und sprachlich nüchtern zugleich. Ernaux blickt zurück auf die Mutter, die im Alter an Alzheimer litt, «am ländlichen Rand einer Kleinstadt in der Normandie geboren und auf der geriatrischen Station eines Krankenhauses in einem Vorort von Paris gestorben». Sie sei die einzige Frau gewesen, die ihr ernsthaft etwas bedeutet habe, schreibt die Autorin. Mit ihrem Tod verliert sie «die letzte Brücke zu der Welt, aus der ich stamme».
Ernaux’ Mutter muss mit zwölf Jahren von der Schule abgehen und in einer Margarinenfabrik arbeiten: «Sie litt unter der Kälte und Feuchtigkeit, bekam Frostbeulen an den nassen Händen, die den ganzen Winter nicht verheilten. Also eher keine ‹schwärmerische Jugend›, stattdessen das Warten auf den Samstagabend, der Mutter den Lohn aushändigen und gerade so viel behalten, um sich ‹Le Petit Écho de la Mode› und Gesichtspuder zu kaufen, Gekicher, Hassgefühle.» Ihre Kinder sollen es unbedingt besser haben, deswegen rackert sie sich auch später in ihrem eigenen Laden ab.
Das kürzlich in deutscher Übersetzung erschienene Buch wurde bereits 1987 in Frankreich veröffentlicht. Ernaux ist in ihrer Heimat eine literarische Legende, im deutschsprachigen Raum wurden ihre Arbeiten erst vor einigen Jahren entdeckt. Alle ihre Bücher sind autobiografisch, eine Mischung aus Literatur und soziologischen Beobachtungen. Unter anderem beschreibt die 1940 geborene Autorin in ihrem Bestseller «Die Jahre» ihre Kindheit und Jugend in der Provinz und in «Der Platz» die Biografie ihres Vaters. Ihre Texte sind gelungene Versuche, sich mit der eigenen prekären Herkunft zu versöhnen und diese Erzählungen in den historischen Kontext einzubetten. Ernaux’ Buch ist eine Geschichte über Prägungen und Bruchlinien zwischen sozial Schwachen und intellektuellen Aufsteigern.
Der Bildungsweg entfremdet die beiden
Die Tochter geht schliesslich auf das Gymnasium: Die Mutter ist «zu jedem Opfer bereit, damit ich ein besseres Leben hatte als sie». Anschliessend studiert sie, die Mutter «verkaufte von morgens bis abends Kartoffeln und Milch, damit ich in einer Vorlesung über Platon sitzen konnte». Doch der Bildungsweg der Tochter entfremdet die beiden: «Manchmal stand ihr in Gestalt ihrer Tochter der Klassenfeind gegenüber.» Als die Tochter einen Mann aus wohlhabenden Verhältnissen heiratet, ist die Mutter einerseits stolz, dass ihre Tochter dazugehört. Zugleich ist da aber auch die «Angst, dass man hinter der Fassade ausgesuchter Höflichkeit auf sie herabblickte». Bis an ihr Lebensende wird die Mutter ihre Herkunftsscham nicht überwinden – eine Scham, die Ernaux spürbar macht.
Buch
Annie Ernaux
Eine Frau
Aus dem Französischen von Sonja Finck
88 Seiten
(Suhrkamp 2019)