Wie ordnet eine künstliche Intelligenz menschliche Gefühle ein? Was macht einen Menschen einmalig? Und was, wenn sich ein Roboter plötzlich menschlicher verhält als der Mensch selbst? Diese Fragen wirft Kazuo Ishiguro in seinem neuen Zukunfts-Roman auf überraschende Weise auf. Im Mittelpunkt steht Klara, ein solarbetriebener Roboter mit menschlichem Antlitz: Sie ist eine KF, eine künstliche Freundin, die als Gefährtin für einsame Jugendliche konzipiert wurde.
Klara blickt mit kindlicher Naivität auf die Welt
Im ersten Teil des Romans wartet sie in einem Laden sehnsüchtig darauf, von einem Teenager entdeckt und gekauft zu werden. Schnell wird klar, dass Klara mit einer besonderen Beobachtungsgabe und Sensibilität ausgestattet ist, dass sie zwar künstlich ist, aber durchaus eine Art von Gefühl empfinden kann. Von Anfang an ist die Maschine in Ishiguros Roman die Sypmpathieträgerin. Schliesslich wird Klara von der 13-jährigen Josie und ihrer Mutter gekauft und widmet sich fortan dem Wohlergehen des kränklichen Teenagers. Josie wurde genetisch optimiert, damit sie mit der Leistungsgesellschaft mithalten, sozial aufsteigen kann – körperliche Schäden werden dabei in Kauf genommen.
Mit technischen Details hält sich der britische Autor mit japanischen Wurzeln aber nicht lange auf. Vielmehr geht es ihm darum, zu zeigen, was den Menschen als Menschen ausmacht – kühn vermittelt er dies ausgerechnet aus der Perspektive eines Roboters. Klara blickt mit kindlicher Naivität auf die Welt. Sie hat eine eingeschränkte Sicht, wenn sie ihre Umgebung als segmentierte Kästchen wahrnimmt oder wenn sie Menschen nach Maschinenformen einordnet. Trotz dieser verfremdeten Wahrnehmung lernt sie schnell dazu – auch was menschliche Gefühle anbelangt. Sie versucht zu verstehen, was Einsamkeit bedeutet, und sie ist sogar in der Lage, über das Herz – das individuelle Innere eines Menschen – zu philosophieren.
Kazuo Ishiguro erzählt diese Geschichte mit einigen überraschenden Wendungen in einer besonderen Mischung aus Science-Fiction und Kindermärchen, in dem tiefe Wehmut, teilweise auch Gesellschaftskritik mitschwingt. Von Genres und Zeitebenen hat sich der in London lebende 66-Jährige, der 2017 mit dem Literaturnobelpreis ausgezeichnet wurde, noch nie einschränken lassen: Zur Science-Fiction zog es ihn schon in seinem Bestseller «Alles, was wir geben mussten» von 2005, in dem die Erzählerin ebenfalls kein echter Mensch ist, sondern ein zur Organspende herangezüchteter Klon. Klara aus dem aktuellen Werk erinnert zudem an die Hauptfigur aus seinem mit Anthony Hopkins verfilmten Roman «Was vom Tag übrig blieb» (1989): Wie der dortige Butler Stevens ist auch Klara bereit, sich für ihren Schützling Josie aufzuopfern – pflichtbewusst bis zur Selbstaufgabe.
Livestream
Lesung und Gespräch mit Kazuo Ishiguro
Do, 6.5., 20.00
www.streaming-ishiguro.de
Buch
Kazuo Ishiguro
Klara und die Sonne
Aus dem Englischen von Barbara Schaden
352 Seiten (Blessing 2021)