Als der kleine Lev über seine Nationalität nachdenkt, fragt er auch seinen Grossvater Ferry, was dieser denn nun eigentlich sei. Bei einer siebenbürgischsächsischen Mutter, einem rumänischen Vater und einem österreichischen Grossvater sei die Sache nicht so einfach, antwortet dieser und plädiert dafür, dass man es sich aussuchen könne: «Zugehörigkeit ist vielleicht nichts anderes als eine Entscheidung.» Jahre später wird der Grossvater seine Familie zurücklassen, als blinder Passagier im LKW über die ungarische Grenze flüchten und sich in Wien niederlassen.
Die Geschichte wird rückwärts erzählt
Die Identitätssuche im Vielvölkerstaat Rumänien, wo sich Herkünfte, Sprachen und Religionen zuweilen innerhalb einer Familie mischen, ist in den Büchern der vielfach ausgezeichneten Autorin Iris Wolff ein wiederkehrendes Thema. Sie selbst ist im rumänischen Siebenbürgen aufgewachsen und mit acht Jahren nach Deutschland ausgewandert, heute lebt sie in Freiburg im Breisgau.
Auch im neuen Roman «Lichtungen» erzählt sie anhand der Geschichte von Lev und Kato von Zugehörigkeit und Migration. Beide stammen aus der Maramuresch im waldreichen Norden Rumäniens. Sie lernen sich besser kennen, als die Aussenseiterin Kato ihrem Schulkameraden Lev die Aufgaben nach Hause ans Krankenbett bringt und mit ihren Besuchen zu seiner Genesung beiträgt. Der Clou: Die zwischen Freundschaft und Liebe oszillierende Geschichte der beiden wird rückwärts erzählt.
Sie beginnt in der Gegenwart bei Kapitel 9, in dem die beiden fast 40-Jährigen sich nach fünf Jahren das erste Mal in Zürich wiedersehen, wo Kato nach einer Reise durch Europa als Strassenmalerin lebt. Und sie endet mit Kapitel 1 tief in der Vergangenheit, lange vor dem Fall des Eisernen Vorhangs, in der KleinLev noch einen Vater hat, den er bald darauf bei einem Unfall verlieren wird. Im Rückwärtsgang und aus der konstanten Sicht von Lev rollt die Schriftstellerin auf, wie es zur grossen Vertrautheit zwischen Lev und Kato kommt.
Eine Verbindung, die auch nicht abbricht, als sich die beiden für entgegengesetzte Wege entscheiden. Denn nach dem Ende von Ceausescus Diktatur stehen die Menschen im postrevolutionären Rumänien vor der Frage: Bleiben oder gehen? Während sich Lev trotz trüben Zukunftsaussichten dafür entscheidet, als Sägewerkarbeiter in der Heimat zu bleiben, nutzt Kato die Bekanntschaft mit einem deutschen Touristen, um sich mit ihm auf eine Veloreise durch Europa zu machen.
Die Lektüre von «Lichtungen» erfordert etwas Konzentration, damit sich die Puzzleteile nach und nach zu einem vollständigen Bild zusammenfügen. Wolff erzählt die Geschichte von Lev und Kato aber mit viel Feingefühl und in poetischen Sprachbildern, und sie webt durch deren Konflikte und familiäre Verstrickungen die Geschichte eines ganzen Landes ein. So möchte man – kaum bei Kapitel 1 am Schluss angelangt – gleich wieder am Anfang beginnen, um allen Facetten des Romans gerecht zu werden.
Radio: Zwei mit Buch
Franziska Hirsbrunner mit Autorin Iris Wolff und Literaturredaktorin Katja Schönherr im Gespräch über den Roman «Lichtungen»
Mo, 25.3., 18.30 / So, 7.4., 11.00
Radio SRF 2 Kultur
Buch
Iris Wolff
Lichtungen
256 Seiten
(Klett Cotta 2024)