Roman: Meister der Suggestion
Der französische Literatur-nobelpreisträger Patrick Modiano brilliert mit dem verschachtelten Kriminalroman «Unterwegs nach Chevreuse».
Inhalt
Kulturtipp 20/2022
Letzte Aktualisierung:
16.09.2022
Rolf Hürzeler
Der Erzähler Jean Bosmans lernt scheinbar zufällig eine junge Frau kennen – Camille mit Spitznamen «Totenkopf». Sogleich befällt ihn ein Misstrauen ihr gegenüber: «Obwohl sie ihn betreffend doch nichts Böses im Schilde führte. Sie verschwieg ihm indes gewisse Dinge …» Das Unbehagen ist berechtigt, wie sich im Lauf der Lektüre des Krimis «Unterwegs nach Chevreuse» herausstellt. Camille «Totenkopf» f...
Der Erzähler Jean Bosmans lernt scheinbar zufällig eine junge Frau kennen – Camille mit Spitznamen «Totenkopf». Sogleich befällt ihn ein Misstrauen ihr gegenüber: «Obwohl sie ihn betreffend doch nichts Böses im Schilde führte. Sie verschwieg ihm indes gewisse Dinge …» Das Unbehagen ist berechtigt, wie sich im Lauf der Lektüre des Krimis «Unterwegs nach Chevreuse» herausstellt. Camille «Totenkopf» führt Bosmans auf einem Ausflug mit einer Freundin ins südlich von Paris gelegene Chevreuse-Tal, das er aus seiner Kindheit kennt: «Er bil- dete sich ein, er träume so, wie man von manchen Orten träumt, an denen man gelebt hat.»
Das trügerische Erinnern
Wirklichkeit oder Einbildung? Der französische Literaturnobelpreisträger Patrick Modiano bewegt sich mit diesem Roman auf dem schmalen Grat von Wahrheit und Täuschung. Protagonist Bosmans merkt, dass sich diese Fahrt nach Chevreuse nicht zufällig ergeben hat. Ebenso wenig wie der Besuch einer heruntergekommenen Liegenschaft in der westlichen Pariser Vorstadt Auteuil, in der er als Kind geweilt und Dinge gesehen hatte, die nicht für ihn bestimmt waren. Patrick Modiano ist ein Meister der Suggestion. Sein Lebensthema ist das Erinnern oder vielmehr das trügerische Erinnern, das Vergangenheit und Gegenwart unentwirrbar verknüpft. In seinem früheren Roman «Im Café der verlorenen Jugend» etwa macht er sich auf Spurensuche nach einer jungen Frau mit zwei Namen, die ihrem Leben ein Ende setzte. Bis zuletzt bleibt verschwommen, was genau mit ihr geschehen ist. Im Buch «Unterwegs nach Chevreuse» spielt Modiano wiederum die Klaviatur des Unbestimmten. Dazu wählt er drei Zeitebenen: Die frühen Erinnerungen des Erzählers Bosmans an seine Kindheit, die Reminiszenzen an diese Erinnerungen 15 Jahre später sowie die Gegenwart, in der sich alles vermengt – nochmals ein halbes Jahrhundert danach. Das alles tönt genauso kompliziert, wie es ist. Die einzige Gewissheit sind die Zweifel an der Wahrnehmung.
Eine Auflösung in klaren Worten
All das gehört zu einem klugen Kriminalroman, wie ihn Modiano mit diesem Buch geschrieben hat. Nach der ersten Reise nach Chevreuse führt «Toten- kopf » Camille den Protagonisten Bosmans in ihren Kreis obskurer Freunde ein. Da ist etwa der bedrohliche Michel da Gama, der auch Dagamat heisst. Von einem gewissen Guy Vincent ist ebenfalls immer wieder die Rede, ohne dass dieser je auftaucht – lebt er überhaupt noch? Und falls ja, ist er wirklich in die USA abgehauen? In diesem undurchsichtigen Gewirr spielt «Totenkopf » eine zwielichtige Rolle. Sie steckt mit ihren Kumpels offenkundig unter einer Decke, warnt aber Bosmans immer wieder, wie sehr er auf der Hut sein müsse. Man ahnt, dass der Schlüssel zu all diesen Geheimnissen im Haus seiner Kindheit liegen muss und kann sich selbst einen Reim auf all die merkwürdigen Geschehnisse machen. Wie in jedem guten Krimi erfolgt die Auflösung in klaren Worten, aber nicht ganz am Ende der Geschichte. Denn diese bleibt in manchem offen. So verschwindet «Totenkopf» ebenso plötzlich, wie sie aufgetaucht ist. Es lohnt sich, dieses wundervolle Buch vorsichtig anzugehen. So kommt man in den Genuss, sich von diesem Roman zusehends schneller forttragen zu lassen.
Patrick Modiano
Unterwegs nach Chevreuse
Aus dem Franz. von Elisabeth Edl
160 Seiten (Hanser 2022)