Eilis begegnet ihrer Jugendliebe Jim in der romantischen Wildnis an der südirischen Küste: «Sie wusste nicht, was sie tun sollte. Sie würde versuchen, so wenig wie möglich zu sagen.» Stellt sich nur die Frage, ob sie damit ihre alte Leidenschaft unterdrücken kann oder diese nicht vielmehr neu entfacht.
Der irische Autor Colm Tóibín hat mit «Long Island» einen Beziehungskrimi um das einstige Liebespaar geschrieben. Eilis und Jim haben sich nach einer Affäre unabhängig voneinander ein Leben aufgebaut. Doch das neuerliche Treffen in den frühen 70ern wirft beide aus der Bahn. Als Leser fiebert man mit, ob es zu einer Annäherung kommt.
«Long Island» ist die Fortsetzung von Tóibíns Roman «Brooklyn», in dem die junge Eilis in New York angekommen ist und in eine italienische Sippe heiratet. In diesem Milieu beginnt «Long Island» mit einem Drama: Eilis’ Ehemann wird nach einer ausserehelichen Beziehung Vater, und seine alte Mutter entscheidet, dass dieses Kind in die Familie gehört. Grund genug für Eilis, in ihre irische Heimat abzureisen, den untreuen Ehemann und die zwei halbwüchsigen Kinder zumindest für eine Weile zu verlassen.
Sie zieht bei ihrer Mutter ein, die in der südlichen Grafschaft Wexford lebt. Diese unterscheidet sich so gar nicht von der Schwiegermutter in Long Island. Dennoch vergisst Eilis New York und ihre Familie schnell, als sie den Pub-Wirt Jim trifft. Noch ahnt sie nicht, dass dieser heimlich mit ihrer besten Freundin Nancy liiert ist. Nancy, die den örtlichen Fish-and-Chips-Laden führt, spürt je doch, dass die Rückkehr von Eilis für sie und ihre Beziehung mit Jim nichts Gutes bedeutet.
Ein Meister des Ungesagten
Tóibín hat einen wunderbaren Beziehungsroman geschrieben, der bis zum Schluss spannend bleibt. Man interpretiert beim Lesen jeden Dialog auf der Suche nach den wahren Gefühlen der Protagonisten. Wer gewinnt in dieser Beziehungskonstella tion, wer verliert? Dabei erweist sich Tóibín wie schon in«Brooklyn» als ein Meister des Ungesagten. Immer wieder wartet man auf klärende Worte als Schlüssel zu den Gefühlen seiner Figuren.
Gleichzeitig zeichnet er ein facettenreiches Gesellschaftsporträt des irischen Provinzlebens in den frühen 70ern. In den USA ist mit der Anti-Vietnam-Protestbewegung bereits eine neue Zeit angebrochen. In Irland halten sich die alten gesellschaftlichen Zwänge indes nach wie vor hartnäckig – zu mindest vordergründig.
Colm Tóibín
Long Island
Aus dem Englischen von Giovanni und Ditte Bandini
316 Seiten
(Hanser 2024)