«Unsichtbare Tinte» ist eine Art Detektivgeschichte: Der Ich-Erzähler Jean Eyben ist knapp 20, als er in einer Pariser Detektei «nur zur Probe» angestellt wird. Der Praktikant soll sich auf die Suche nach Noëlle Lefebvre machen: Sie ist spurlos verschwunden. Und wer sie wirklich war, ist auch nicht klar. Gewiss ist nur: «Es gibt Leerstellen in diesem Leben.»
Auf der Suche nach der Verschwundenen trifft Eyben auf allerlei seltsame Menschen, die in ihrem Leben eine Rolle gespielt haben. Nur erschliesst sich ihm nicht immer ganz, auf welche Art. Eyben beendet seinen Job schon bald, der Fall Noëlle Lefebvre aber wird ihn noch 30 Jahre lang beschäftigen. Nie über lange Zeit, aber immer wieder, sodass er konstatieren muss: «Im ziemlich gradlinigen Verlauf meines Lebens war es eine ohne Antwort gebliebene Frage.»
Viele Fragen anstatt Antworten
Patrick Modiano, Literaturnobelpreisträger von 2014, ist bekannt dafür, in seinen Romanen – es sind über 30 – Fragen aufzuwerfen, anstatt Antworten zu liefern. In «Unsichtbare Tinte» etwa stellt der Erzähler fest: «Ich fürchte, hat man einmal alle Antworten gefunden, dann wird das Leben hinter einem zuschnappen wie eine Falle, mit dem Schlüsselgeklirr von Gefängniszellen.»
Bis zum Schluss halten sich Eyben sowie sein Alter Ego Patrick Modiano bedeckt. Die Faktenlage ist unklar, die Erinnerungen sind vage, die Geschichte bleibt geheimnisvoll, poetisch und packend zugleich.
Modiano wurde 1945 als Sohn eines italienisch-jüdischen Kaufmanns und einer flämischen Schauspielerin im Pariser Vorort Boulogne-Billancourt geboren und wuchs direkt gegenüber dem Louvre in ärmlichen Verhältnissen auf. Seine Eltern trennten sich früh, und sein einziger Bruder Rudy starb 1957 mit neun Jahren an Leukämie. Modianos Mutter kämpfte mit Geldknappheit, sein Vater war viel unterwegs und in dubiose Geschäfte verwickelt.
Modiano schreibt übers Vergessen und Erinnern
Wie Modiano in seinem autobiografischen Roman «Das Familienstammbuch» von 1977 schreibt, war er oft auf sich allein gestellt und hatte stets das Gefühl, überflüssig und ungeliebt zu sein. Halt gab und gibt ihm offenbar seine Heimat Paris. Modiano verlässt die Stadt nur selten. Seine Gedanken und Geschichten bringt er in seiner Wohnung in einem mit Büchern vollgestopften Arbeitszimmer zu Papier – und das mit einem einfachen Stylo. Nur so erhalte er die Verbindung zum Papier, den nötigen Halt, um schreiben zu können, sagt er in einem seiner wenigen TV-Interviews.
Halt finden, Vergessen, Erinnern: Diese Themen umkreist Modiano in all seinen bisherigen Werken. Auch in «Unsichtbare Tinte» geht der Ich-Erzähler der Frage des Erinnerns nach, um Leerstellen im Leben zu füllen, um dann die Antwort wiederum in einer Frage zu finden: «Wäre es nicht ratsamer, man liesse Brachflächen um sich herum, in die man entwischen kann?»
Patrick Modiano
Unsichtbare Tinte
144 Seiten
Aus dem Französischen von Elisabeth Edl
(Hanser 2021)