Rebellisch, angepasst oder zurückhaltend. Trotzig, witzig und naiv. Die Heldinnen in «Mädchen, Frau etc.» sind facettenreich. Lebensklug und leidenschaftlich erzählt Bernardine Evaristo die Lebensgeschichten von elf schwarzen Frauen und einer nichtbinären Person, die sich also weder als männlich noch als weiblich identifiziert. Auch einige Männer tauchen auf, sie bleiben jedoch Randfiguren.
Im Fokus sind Frauen, die sonst selten im Blick der Öffentlichkeit stehen, darunter eine engagierte Lehrerin und eine studierte Putzfrau, aber auch Intellektuelle. Da ist zum Beispiel Amma Bonsu, eine radikale Theatermacherin aus London, die gerade ein Stück inszeniert, in dem sie sich mit ihrer Identität als schwarze, lesbische Frau auseinandersetzt. Ihre Tochter Yazz wiederum bezeichnet sich als Humanistin und stellt den modernen Feminismus infrage. Heute sei es sogar «schon durch», noch eine Frau zu sein, findet die 19-Jährige.
Mal jugendlich flapsig, mal sachlich distanziert
Eines von Evaristos herausragenden Talenten: Sie erschafft lebensnahe, glaubwürdige Charaktere. Vor zwei Jahren wurde sie für «Mädchen, Frau etc.» als erste schwarze Autorin mit dem Booker Prize ausgezeichnet. Ihr vorheriger Roman «Mr. Loverman» (2013) – eine rührende Geschichte über einen 74-jährigen homosexuellen Einwanderer aus der Karibik, der seit Jahrzehnten eine heimliche Liebesbeziehung führt – nimmt viel von ihrem neuen Werk vorweg.
Wie schon im Vorgänger legt Evaristo im neuen Roman Generationenkonflikte offen und entkräftet mit einem Augenzwinkern Vorurteile. Dabei springt sie souverän zwischen Orten und Jahrzehnten hin und her: Vom London der Thatcher-Ära geht es ins Barbados der Gegenwart. Gewandt verbindet sie historische Fakten und Fiktion zu einer schillernden Erzählung. Durch überraschende Wendungen verknüpft sie die Lebensgeschichten der Protagonistinnen miteinander, erzählt dabei mal jugendlich flapsig, mal sachlich distanziert aus der Sicht unterschiedlicher Figuren. Ein dramaturgisch geschickter Kniff, denn dadurch werden die gleichen Ereignisse aus anderen Blickwinkeln beleuchtet.
Zugänglich trotz experimentellem Erzählstil
Stilistisch setzt die 1959 in London geborene Professorin für Kreatives Schreiben bei ihren fesselnden «Miniporträts» auf eine experimentelle Schreibweise. Interpunktion ignoriert sie weitgehend, zwischendurch wechselt sie von temporeicher Prosa zu nahezu lyrischen Zeilen. Trotz des eigenwilligen Stils ist das Buch zugänglich und leicht zu lesen. Ungezwungen und in lockerem Ton greift Evaristo auf den über 500 Seiten brisante Fragen auf. Entwaffnend führt sie die Mechanismen von Identitätspolitik vor. Anstatt unterschiedliche Gruppen gegeneinander auszuspielen, betont sie die Wechselwirkung von Sexismus, Rassismus, Fremdenfeindlichkeit und Homophobie.
Beiläufig streift sie zudem Tabuthemen wie Sex im Alter sowie sexuellen Missbrauch unter Minderjährigen und zeigt alternative Lebensmodelle auf. So gelingt ihr ein packender Roman, rappelvoll mit Geschichten über unvergessliche Frauen, die so manche zurzeit hitzig geführte politische Debatte lässig entkräften.
Bernardine Evaristo
Mädchen, Frau etc.
Aus dem Englischen von Tanja Handels
512 Seiten
(Tropen 2021)