Es beeindruckt, dass Lukas Hartmann nur eineinhalb Jahre nach seinem Schlaganfall wieder einen neuen Roman veröffentlicht hat – und erst noch einen derart persönlichen. Mit der Geschichte seiner Familie hatte er sich schon seit Jahren beschäftigt, zwei Drittel des Buchs waren geschrieben. Dass er den Roman nach dem heftigen Einschnitt in sein Leben fertigstellen konnte, freut deshalb nicht nur ihn, sondern auch seine Leserinnen und Leser.
In «Martha und die Ihren» rückt der 79-jährige Schriftsteller das Leben seiner Grossmutter ins Zentrum. Sie ist nach dem frühen Tod ihres Vaters in der Vorkriegszeit als Verdingkind in einer fremden Bauernfamilie aufgewachsen. Getrennt von ihrer Mutter und ihren fünf Geschwistern, erfuhr sie kaum menschliche Wärme, Zuneigung und Wertschätzung. Sie musste viel arbeiten, beten und litt oft an Hunger.
«Eine fast berührungslose Kindheit»
«Es herrschte eine grosse emotionale Kälte. Martha hatte eine fast berührungslose Kindheit», sagte Lukas Hartmann in einem Interview mit dem «Tages-Anzeiger». Er selbst erlebte seine Grossmutter als körperlich abweisend: «Sie wollte nicht berührt werden.» Deshalb sei sie ihm als Enkel lange fremd geblieben. Erst als junger Erwachsener fand er den Zugang zu ihr. «Es brauchte Geduld und Wohlwollen, bis sie bereit war, sich an frühere Erfahrungen zu erinnern, und es ihr gelang, dorthin zurückzukehren», schreibt er im Nachwort.
Marthas Geschichte ist die einer zähen, starken, aber auch duldsamen Frau, die sich trotz vielen Widrigkeiten im Leben behauptete. Die Werte, die sie ihren beiden Söhnen vermittelte, zielten weniger auf Emotionalität als vielmehr auf Leistungsfähigkeit und Wohlstand. Toni, der Älteste, war der Vater von Lukas Hartmann. Er wurde im Roman zu Bastian. Der sensible Junge verstand nicht, dass sich der Vater so abrackerte, um es zu etwas zu bringen.
Bastian suchte Zuneigung, Liebe und Anerkennung. Sein Vater war überfordert damit. Es kam zu Missverständnissen, Meinungsverschiedenheiten und später zu groben Streiten. Die Zerwürfnisse zwischen Vater und Sohn sollten sich fast ein Leben lang nicht mehr kitten lassen.
Scham trotz überwundener Armut
Gradlinig und einfach erzählt Hartmann seine Familiengeschichte und zeigt einmal mehr, welch einfühlsamer Beobachter er ist. Er scheut sich nicht, sich mit den unschönen Seiten des eigenen Lebens auseinanderzusetzen, um seinen Figuren und sich selbst gerecht zu werden. Sein Roman macht zudem die rasanten gesellschaftlichen Entwicklungen sichtbar, die in den Nachkriegsjahren zu einem Wertewandel und damit zu schier unüberbrückbaren Generationenkonflikten führten.
«Vermutlich hätten meine Grossmutter und mein Vater versucht, mich zu überzeugen, dieses Buch nicht zu schreiben, weil sie sich wegen ihrer überwundenen Armut immer noch schämten», schreibt Hartmann auf Anfrage. Dies macht umso deutlicher: Dieser Roman ist ein wichtiges Stück Schweizer Gesellschaftsgeschichte.
Lukas Hartmann
Martha und die Ihren
304 Seiten
(Diogenes 2024)