Vor vier Jahren hat eine Leserin dem ukrainischen Schriftsteller Andrej Kurkow etwa zehn Kilo Archivmaterial der bolschewistischen politischen Polizei aus den Jahren unmittelbar nach dem Ersten Weltkrieg überlassen. Das hat ihn zu einem historischen Kriminalroman inspiriert, der jetzt unter dem Titel «Samson und Nadjeschda» in deutscher Übersetzung vorliegt – mit einer Anmerkung am Schluss: «Ende. Aber Fortsetzung folgt.» Samson Koletschko, die Hauptperson, wird uns also erhalten bleiben, auch wenn sein Autor in diesen Kriegszeiten mit Interviews, Essays und Stellungnahmen derart beschäftigt ist, dass an ein Weiterverfolgen des historischen Fadens noch nicht zu denken ist. Samson ist ein etwas nai- ver, aber sympathischer junger Mann, den das Unglück gleich auf der ersten Seite in Ge- stalt eines marodierenden Kosaken zu Pferde trifft. Es ist der 11. März 1919, er hört das Geräusch eines Säbels, der den Kopf seines Vaters entzweischlägt. Und sein eigenes rechtes Ohr abtrennt.
Die Suche nach dem Hintermann
Fortan wird er dieses Ohr in einer kleinen Schachtel im väterlichen Schreibtisch aufbewahren, der wie Samson selbst seinen Weg auf die Polizeistation findet: Der Tisch wird beschlagnahmt, Samson beschwert sich – und beeindruckt den Polizeichef mit seiner sprachlichen Gewandtheit derart, dass der ihn gleich als Ermittler einstellt. Schiessen lernt Samson jetzt auch, denn Kiew ist eine umkämpfte Stadt, mehrfach muss sich die sowjetische Rote Armee zurückziehen vor den untereinander zerstrittenen ukrainischen und russischen Gegenkräften. Chaos und Anarchie herrschen, Hunger grassiert, überall liegen Leichen, und auf dem Friedhof werden im Akkord Gräber ausgehoben. Samson aber vertieft sich in den Fall zweier diebischer Rotarmisten, die sich in seiner Wohnung einquartiert haben. Doch die beiden haben auch Angst, es gibt einen Hintermann, den rätselhaften Jakobson, der nur eines begehrt: Silber. Doch weshalb?
Krimi mit skurrilen Einfällen
Zu Hilfe kommt ihm sein Verstand. Und Nadjeschda, die junge Frau aus dem Amt für Statistik, mit der ihn seine Hauswirtin bekannt macht, und die bei ihm einzieht. Zart deutet Kurkow eine Liebesgeschichte an, mit gekonnten Pinselstrichen lässt er jene Menschen lebendig werden, die zum Teil der alten Ordnung anhängen, oder aber, wie Samson selbst, mit den Bol- schewiki sympathisieren. Unterschwellig schwingt eine Botschaft mit: Würden die Ukrainer zusammenhalten, so könnten sie sich behaupten gegen den scheinbar übermächtigen «grossen Bruder», der 1919 die Unabhängigkeit der Ukraine noch zu verhindern vermag.
So ist «Samson und Nadjesch- da» ein politisches und gegenwärtiges Buch, allerdings in Gestalt einer leichtfüssigen Detek- tivgeschichte, die Kurkow mit einem jener skurrilen Einfälle würzt, an denen sein Werk reich ist: Samsons abgeschlagenes Ohr vermag weiterhin zu hören, was sich hinter dem Rücken seines Besitzers tut.
Vom Verlag hätte man sich zum Plan der Schauplätze zusätzlich noch ein Glossar der unbekannten sowjetischen Begriffe und politischen Gruppierungen gewünscht. Auch ein historisches Nachwort hätte nicht geschadet.
Andrej Kurkow
Samson und Nadjeschda
368 Seiten (Diogenes 2022)