Der Kriminalfall ist historisch verbürgt, doch Flavio Steimann verzichtet auf die Nennung der realen Namen. Authentisch bleibt der ganze Rahmen, in Archiven minutiös recherchiert. Der Roman berichtet zu einem Grossteil fiktional von den zwei lädierten Leben, die beide gewaltsam endeten: Das eine durch einen grausamen Lustmord, das andere staatlich sanktioniert unter der Guillotine. Der tatsächliche Fall ist ins Jahr 1915 datiert, als der letzte Mörder im Kanton Luzern mit dem Fallbeil hingerichtet wurde.
Der Kleinkriminelle und das «Taubstümmchen»
Agatha wird als «Taubstümmchen, ein Viersinniges bloss» geboren. Die Mutter stirbt bei der Entbindung, der Vater flüchtet sich in seiner Verzweiflung in den Freitod. Agatha ist Waise von Anfang an. Sie kommt ins Heim, in die «Allg. Armen- & Idioten-Anstalt St. Ottilien zum Fang». Kein schöner Ort. Agatha kann anschliessend in der Textilfabrik arbeiten gehen.
Einmal geht sie in die nahe Stadt mit Totentanz-Brücke. «Auf der Allmend haben sie die Völkerschau mit dem Negerdorf aufgebaut.» Der Ort ist als Luzern erkennbar. Zur Kur wird Agatha auf einen Bauernhof geschickt. Jeden Tag geht sie zur Sitzbank beim Krumholz, um zu sticken. Hier wird sie sterben, mit ihrer eigenen Nähschere ermordet und geschändet.
Zwei Schicksalswege haben sich auf fatale Weise gekreuzt. In der Hälfte des Buches wechselt die Perspektive zu jener des Täters. Im Roman heisst er Zenz Torecht. Ein kleinkrimineller Hallodri, der zuletzt im Wald lebte. Zenz wird gefasst, das Buch rollt seine Biografie auf, bis zu seinem Tod, der «Vernichtung dieses Defektmenschen».
Flavio Steimann, der zuletzt mit dem grossartigen Roman «Bajass» (2014) überzeugte, kehrt auch mit dem neuen Buch in die Historie zurück. Auch wenn die fein gearbeitete Sprache, nüchtern-präzis und zugleich bildgewaltig, viele inzwischen fremd gewordene Wörter kennt, wenn die Schauplätze in die Zeit vor dem Ersten Weltkrieg zu verorten sind – nie erliegt der Autor der Versuchung, einen historischen Roman zu schreiben. Jenseits von angestaubt findet er einen eigenen sprachlichen Ton für sein Erzählen von den gnadenlosen Schicksalen zweier randständiger Menschen in einer finsteren Zeit.
«Ohne Dumme gäbe es keine Welt der Reichen»
Angesichts eines Porträtfotos heisst es über die Tote: «Stolz und Willenskraft seien vielleicht aus diesen fast wimpernlosen Augen zu lesen und ein Lebenshunger, Misstrauen gleicherweise, eine unausgesprochene ahnungsvolle Angst vor den Menschen und der Welt.» Und von Torecht, diesem «Unnotwendigen», wird berichtet: «Der Zenz ist nicht der Einzige gewesen, der die Erde hat verlassen müssen, ohne zu verstehen, warum die Dinge in der Ferne kleiner erscheinen, als sie in Wirklichkeit sind. Dass es ohne Dumme auf dieser Welt keine Reichen gäbe, hat er indessen sehr wohl gewusst, zumal er gewiss nicht eigentlich einfältig gewesen ist und, wenn man von seiner Tat absieht, im Grunde nicht so viel übler als alle andern.» Starke Worte aus einem sprachkräftigen Roman.
Flavio Steimann
Krumholz
200 Seiten
(Edition Nautilus 2021)