Verloren steht Yan Kerrand, ein Franzose Ende 40, im Wollmantel an der Rezeption. Die 23-jährige Ich-Erzählerin und Rezeptionistin schämt sich für die Schäbigkeit der Zimmer. Doch der erfolgreiche Comiczeichner sucht in der Pension im hinterletzten Winkel Südkoreas nach Inspirationen für ein neues Album. Das Fischerstädtchen Sokcho liegt an der Grenze zu Nordkorea. Im Sommer ist es ein Badeort, im Winter eine Einöde, in der das Thermometer bis auf minus 27 Grad fällt.

Die Ich-Erzählerin beobachtet den Gast heimlich durch ­einen Türspalt beim Zeichnen. Sie ist Tochter einer Koreanerin und eines Franzosen und jobbt nach ihrem Sprachstudium in Seoul in der Pension. Sie und der Künstler nähern sich rasch an. Sie geht mit ihm Papier und Tusche kaufen, begleitet ihn ins Niemandsland. Er fragt, ob sie ihm bei der ­Arbeit helfe. Sie ihn, wieso er nie Frauen zeichne und wie es in Frankreich sei. 

Die 26-jährige Autorin Elisa Shua Dusapin kennt beide Welten. Auch sie hat eine koreanische Mutter und einen französischen Vater. Als sie fünf war, zog ihre Familie von Frankreich in ein Dorf bei Pruntrut. Sie studierte am Literaturinstitut in Biel und lebt heute im Jura. Ihr Roman erzählt von der Sehnsucht nach Nähe, kulturellen Missverständnissen und Verlorenheit. Er zeugt von ­einer frühen Meisterschaft. Die Komposition ist schlüssig. Mit wenigen Worten entwirft die Autorin atmosphärisch dichte Szenen. Selten nur verrutscht ein Sprachbild. Das französische Original erhielt den Robert-Walser-Preis.

Am Ende macht die junge Frau Schluss mit ihrem oberflächlichen Freund. Der Comic-Künstler findet zu seiner Geschichte, in der erstmals eine Frau auftaucht. Seine Arbeit nimmt ihn völlig gefangen. Die Ich-Erzählerin hört nachts nur noch das Kratzen seiner Feder durch die Papierwand, die ihre Zimmer trennt. Bei ihren letzten Begegnungen ist die kulturelle Kluft zwischen ihnen plötzlich unüberwindbar.

Buch
Elisa Shua Dusapin
Ein Winter in Sokcho
144 Seiten 
(Aufbau ­Verlag 2018)