Der junge Mann ist verliebt. In sich selbst, in Arianna und in die Stadt Rom. «Mehr noch als eine Stadt ist Rom ein geheimer Teil von euch, ein Raubtier. Mit ihm gibt es keine halben Sachen, entweder die grosse Liebe, oder ihr müsst da weg.» Mit diesen Worten beschreibt der Ich-Erzähler Leo Gazzarra sein Lebensgefühl in der Ewigen Stadt. Er hält sich an seine Erkenntnis und lässt sich vereinnahmen. Der Lümmel schwebt meist beduselt rund um die Piazza Navona, wo er mit seinen Kumpels und den Ragazze zum Inventar gehört wie der zentrale Vierströmebrunnen (Fontana dei Quattro Fiumi).
Der Roman erinnert an die Filme von Federico Fellini
«Der letzte Sommer in der Stadt» heisst diese autobiografisch gefärbte Geschichte des italienischen Schriftstellers und Drehbuchautors Gianfranco Calligarich (75). Der Roman ist bereits 1973 erschienen und galt während Jahrzehnten als Geheimtipp. Vor fünf Jahren ist er in Italien wieder herausgekommen und liegt nun in einer neuen deutschen Übersetzung vor. Die ersten zwei Drittel lullen den Leser ein in die lockeren Lebensfreuden der Italianità, im letzten Drittel hält südliche Schwermut Einzug. Kritiker erinnern zu Recht an die Kinofilme von Federico Fellini, dessen Bilder einen bei der Lektüre gedanklich begleiten.
Eine stringente Erzählung fehlt dem Roman. Calligarichs Alter Ego Leo reist von Mailand nach Rom. Er kann dort die Wohnung und den alten Alfa Romeo eines befreundeten Ehepaars übernehmen, das nach Mexiko reist. Leo meint es mit allen gut, am besten mit sich selbst. Arbeiten liegt ihm nicht. Er hat einen Teilzeitjob bei der «Gazzetta dello Sport», der ihn noch mehr anödet als das Schreiben medizinischer Texte, mit denen er sich bis dahin abrackerte. Sein Leben scheint eine Wende zu nehmen, als er die Ewigstudentin Arianna kennenlernt. Die beiden verlieben sich, finden aber nie wirklich zusammen. Ganz anders ist Leos Verhältnis zu seinem Freund Graziano. Die beiden Unzertrennlichen kampftrinken sich durch die römischen Bars.
«Der alte Alfa war langsam und laut wie ein Wal»
Autor Calligarich ist ein Meister der treffenden Metaphern, um Stimmungen einzufangen: «Der alte Alfa war langsam und laut wie ein Wal, und die Vögel auf den Bäumen verstummten wie beim Durchzug einer dunklen Wolke am Himmel.» Da fährt man als Leser mit aus dem Gewirr der römischen Gassen Richtung Meer, das für Leo wichtigster Anziehungspunkt im Leben ist. Denn unter Menschen fühlt er sich nur mässig wohl, etwa wenn er einzelne Besucher einer Party beschreibt: «Der Begleiter des Mädchens irrte im Salon umher, als wäre er bei einem spontanen Segelflugversuch gerade gegen einen Schrank geknallt.» Da spürt man gleich, dass dieser Kerl Leos Herz kaum gewinnen wird. Im Gegensatz zur Studentin Arianna, der er verfallen ist: «Die Zartheit ihres Körpers liess alles, was sie machte, zu einer Heldentat werden.»
«Der letzte Sommer in der Stadt» ist ein Roman, der ans Herz geht. Brillant geschrieben, mit etwas «Der Fänger im Roggen» und «Die Leiden des jungen Werthers» angereichert. Wer jetzt nach Rom reist, wird die Stadt mit anderen Augen sehen.
Buch
Gianfranco Calligarich
Der letzte Sommer in der Stadt
Aus dem Italienischen von Karin Krieger
205 Seiten
(Zsolnay 2022)