«Auf der Strecki» bleiben in Roland Reichens Roman die Figuren «Vättu» (Sämu) und seine Frau, das «Müeti», sowie deren Söhne. Nebst Drogensucht und krummen Touren dreht sich in den Erzählungen vieles um «Vättu»: «dass er dermassen ein Schwieriger wurde, ausenheuschig, bequem und misstreu, das lag vor allem an dem kuurligen Umgang von seinen Eltern».
Sämu kriegte als Jugendlicher am Samstagabend Ausgehverbot und ein Puzzle, um sich die Zeit bis zum Insbettgehen zu vertreiben. Und in seiner Lehre als Rohrleger drückte ihm der Lehrmeister nach ein paar Tagen ein Staubsaugerrohr in die Hand: Er solle jetzt putzen, fürs Rohrlegen sei er zu langsam, und «ob das öppen kein Rohr sei?»
Übersetzungshilfe für unklare Wörter inklusive
Das Buch beginnt mit der Reise des jüngeren Sohnes und des Vaters nach Monza an die Formel-1-Strecke. Ohne jede Menge Tabletten, die er vom ebenfalls drogensüchtigen Bruder Meggi hat, würde der Erzähler die Reise nicht überstehen. Dazu ist «Vättu» viel zu genervt und viel zu nervend. Zur Verteidigung hält ihm der Sohn den Deckel des Buchs entgegen, das er auf der Reise liest: «Vom Nachteil, geboren zu sein». Die Bosheit sitzt. «Da hält er dann erst einmal wieder den Latz.» So macht es keinen Unterschied, dass der Sohn bei der Lektüre einschläft.
Der «Nachteil» ist ein Buch des rumänischen Philosophen E.M. Cioran (1911–1995). Dieser schreibt: «Ohne eine kräftige Dosis Grausamkeit könnte man keinen einzigen Gedanken zu Ende führen.» Das trifft auch auf Reichens Buch zu. Ohne eine an Grausamkeit grenzende Distanznahme der Erzählung könnte keine der Figuren in diesem Familienzerfall zu Ende geführt werden.
Der 46-jährige Autor aus Spiez im Berner Oberland arbeitet mit einer Kunstsprache, die als «Simmentalerisch mit norddütschen Obertön» beschrieben wird. Ohne Blättern zum Wortverzeichnis bliebe für Nicht-Simmentaler einiges unverständlich: sei es «Hakenbadi» (Gehstock), «ausenheuschen» (mäkeln) oder «grampolen» (poltern).
Reichens dritter Roman in dialektgefärbtem Deutsch
Die zwölf Kapitel, von denen je vier entweder von einem der Söhne oder vom «Müeti» erzählt werden, bieten neben Elend und Tragik auch poetische Perlen: «Fulensee, als ein paar Liechtli in der Schwärzi, fliegt draussen am Fenster vorbei. Der See selber glänzt im Licht von der Schiffländti matt wie geronnenes Blei.» Diese fragile Sprache kollidiert mit der Gnadenlosigkeit, mit der die Figuren lebendigen Leibes seziert werden. Das Buch steigert sich in einen Rausch der Demontage, mit der es den Figuren an den Kragen geht. Die Kunstsprache von Roland Reichen, der bereits zwei Romane in dialektgefärbtem Deutsch verfasst hat, spielt dabei sicherlich auch mit den Erwartungen einer Leserschaft, die bei «Mundartroman» «Jöö, so härzig!» denkt und eine gewisse «Bhäbigkeit» erwartet. Diese gibt es hier definitiv nicht. «Auf der Strecki» ist richtig harter Stoff.
Lesung
Do, 6.8., 19.00 Café Fleuri Botanischer Garten Bern
Buch
Roland Reichen
Auf der Strecki
128 Seiten (Der gesunde Menschenversand 2020)