Der 14-jährige Anthony lebt mit seiner Familie in einem kleinen Haus, das den Traum der in der Gesellschaft Angekommenen signalisiert. Denn der Vater ist Stahlarbeiter, hat hart für dieses Häuschen geschuftet – bis das Werk geschlossen wird und der Arbeitslose seinen Frust im Alkohol ertränkt. «Anthony hatte nicht viel mit seinem Alten gemein, aber das wenigstens teilten sie: Glotze, Motorsport, Kriegsfilme», schreibt Nicolas Mathieu in seinem Roman «Wie später ihre Kinder».
Darstellung einer gedemütigten Klasse
Nicolas Mathieu erzählt die Geschichte aus der Sicht der Teenager Anthony, Hacine und Steph und beschreibt deren Erwachsenwerden über mehrere Sommer hinweg. Schauplatz ist das fiktive Städtchen Heillange im Nordosten Frankreichs in den 90er-Jahren, das als die lothringische Stahlstadt Hayange zu erkennen ist. Die Industrie ist am Ende, Arbeitsplätze werden abgebaut. Die Jugendlichen werden gross in einer Welt, die schwindet und von deren Vergangenheit sie ständig hören: «Die Fabrik hatte gepfiffen, gestöhnt und gebrannt, über sechs Generationen, Tag und Nacht. Eine Unterbrechung hätte ein Vermögen gekostet, da riss man die Männer lieber aus dem Schlaf und aus den Armen ihrer Frauen. Und am Ende blieben nur rostige Umrisse, eine Mauer, ein Tor mit einem kleinen Vorhängeschloss.»
Der in Lothringen geborene Autor hat die Auflösung der Gesellschaft in jener Region selbst erlebt. Mathieu zeigt den Teil der französischen Gesellschaft, der abgehangen in der Provinz immer frustrierter in die rechte Ecke rutscht: Menschen, die übersehen werden, weil sie von den Herrschenden in Paris nicht ernst genommen und als Verlierer abgestempelt werden. Matthieu ist die Darstellung einer gedemütigten Klasse gelungen, wie zuvor Édouard Louis in seinem hochgelobten Debüt «Das Ende von Eddy», Didier Eribon im grossartigen autobiografisch-politischen Bestseller «Rückkehr nach Reims» und Annie Ernaux in ihren Romanen aus dem Arbeitermilieu.
Verständnis für die Gelbwesten-Bewegung
Die Verleihung des Prix Goncourt, des wichtigsten Literaturpreises des Landes, ist dennoch erstaunlich. Zum einen schreibt der Autor sprachlich simpel, gelegentlich wirken die Figuren zu klischeehaft, wenn etwa der marokkanischstämmige Hacine mit Drogendeals Geld verdient. Auch hat das Buch ermüdende Längen und bietet keine überraschenden Wendungen.
Dennoch: Wer den heutigen Erfolg der Gelbwesten-Bewegung und des Front National verstehen will, sollte dieses Buch lesen. Denn der Schriftsteller räumt mit der hartnäckigen Lüge der Chancengleichheit auf. Anthony kommen «seine Leute ziemlich klein vor, wegen ihrer Körpergrösse, aber auch wegen der bescheidenen Jobs, wegen ihrer mickrigen Hoffnungen, sogar ihr Unglück war erbärmlich, das allgemeine wie das konjunkturbedingte. Sie wurden entlassen, geschieden, betrogen und bekamen Krebs. Sie waren ganz schön normal, und alles andere kam sowieso nicht infrage.»
Buch
Nicolas Mathieu
«Wie später ihre Kinder»
448 Seiten
(Hanser 2019)