Wer nimmt sich heute, wo die Sprache oft auf Twitter-Kürze zurechtgestutzt ist, noch Zeit für ein fast 1000-seitiges Buch? Für einen Roman mit ellenlangen Sätzen, der jedes kleinste Detail ausleuchtet, jedem Nebenstrang, jeder Figur viel Raum gibt? Rolf Lapperts neuer Roman «Leben ist ein unregelmässiges Verb» ist so ein Buch. Und es ist ein Lesevergnügen. Denn die langen Sätze lesen sich im Fluss, die Geschichte entwickelt einen starken Sog. Man will wissen, wie es den vier Hauptfiguren ergeht. Und man erkennt in ihrem Ringen und Rudern das Allgemeinmenschliche.
Vier Menschen rast- und ratlos im Leben
Frida, Leander, Ringo und Linus: Alle vier sind zusammen in den 70ern in einer abgelegenen Kommune in Norddeutschland aufgewachsen – abgeschirmt von der Welt, hart auf dem Feld arbeitend, aber auch in Geborgenheit miteinander verbunden. Ihr einziger Bezug zur Aussenwelt ist die Literatur, denn einer der Erwachsenen liest ihnen jeden Abend aus den Klassikern vor. Was in den Büchern fiktiv und was real ist, bleibt ihnen freilich ein Rätsel. Bis zu jenem Tag im Jahr 1980, an dem sie – 12-jährig – aus der Kommune «befreit», in vier Windrichtungen zerstreut werden und plötzlich jeder für sich alleine klarkommen müssen in der völlig unbekannten, Angst einflössenden Aussenwelt.
An diesem Punkt setzt Rolf Lappert mit seinem Roman an und erzählt, wie sich die vier fortan im Leben zurechtfinden. Von Frida, die sich rastlos durch die Welt treiben lässt. Von Leander, der sich immer wieder von anderen in eine unpassende Rolle drängen lässt. Von Ringo, der unter den sensationsgierigen Medien leidet und im Alkohol versinkt. Und von Linus’ Wunsch, einfach von der Bildfläche zu verschwinden. Gemeinsam ist ihnen die Einsamkeit, denn die vier werden nie ganz heimisch in dieser Welt, sehnen sich zurück in die Geborgenheit der Kommune. Als Kinder kommen sie zu Pflegefamilien, nach ihren eigenen Wünschen werden sie selten gefragt. Und so bleiben sie auch als Erwachsene allesamt rast- und ratlos, was sie mit ihrem Leben anfangen wollen.
Bereits in seinem wunderbaren Roman «Nach Hause schwimmen» hat Lappert einen Aussenseiter beim Leben, Scheitern, Aufrappeln und erneuten Scheitern begleitet. «Ich will es den Figuren in meinen Romanen so schwer wie möglich machen. Über das Glück zu schreiben, stelle ich mir schwierig und ein bisschen langweilig vor», sagte er kürzlich in der SRF-Sendung «52 beste Bücher». Dennoch blitzt zuweilen Humor auf. Richtig bissig-satirisch wirds, wenn er Leanders Erlebnisse im Internat mit antiautoritärem Erziehungsstil und später im eitlen Literaturbetrieb beschreibt. Ankreiden könnte man Lappert einzig, dass er zwar aus unterschiedlicher Perspektive erzählt, jedoch alle Stimmen in ähnlicher Sprache erklingen. Dafür entschädigt wird man durch funkelnde Sprachbilder und eine packende Geschichte.
Lesungen
Fr, 23.10., 19.30 Coal Mine Winterthur ZH
Mo, 2.11., 19.30 Literaturhaus Zürich
Zum Nachhören
Rolf Lappert in der Sendung
«52 beste Bücher»: www.srf.ch
Buch
Rolf Lappert
Leben ist ein unregelmässiges Verb
992 Seiten
(Hanser 2020)